Blutkirsche
die Apfelringe und Birnenschnitze auf dem Dachboden trocknete. Sie verlangte, er solle ihr helfen. Nur widerwillig fügte er sich, später schob er Klassenarbeiten oder das Studium vor. Erst in späteren Jahren wurde ihm bewusst, dass seine Mutter ihre Kinder sonst nicht hätte ernähren können und er schämte sich dafür, dass er ihr nicht mehr geholfen hatte.
Aber etwas blieb hängen, vielleicht die Sehnsucht nach frischen ungespritzten Erdbeeren, knackigen Möhren und Gurken, dem Duft von Freiland-Tomaten, die ihn bewog, sich den Schrebergärtnern anzuschließen.
Einmal diesen Entschluss gefasst, fiel es ihm leicht, die Medikamente wegzulassen, zur Sicherheit hatte er aber, ganz hinten im Küchenschrank, eine Packung aufgehoben.
Als er den Garten im vergangenen November kaufte − nur die Bäume, Sträucher und die Laube, das hieß, alles auf der Oberfläche − und den Pachtvertrag über den Boden abschloss, fühlte er sich sicher. Hier würde er seinen inneren Frieden finden.
Lorenz bemerkte, dass keine Kinder in den Parzellen um ihn herum spielten. Überhaupt schien es kaum Nachwuchs zu geben, der überalterte Verein spiegelte den demografischen Wandel wieder.
Die einzige, die fürs Kinderkriegen vom Alter her infrage kam, war Wilma Bauer-Fiori aus Nummer 11, ganz zu Anfang hatten sie sich einander kurz vorgestellt. Sie schien keine Sprösslinge zu haben. Es gab auch keinen Herrn Fiori, jedenfalls hatte er ihn noch nie gesehen.
Mike Fink aus Nummer 15, dem Outfit nach ein ewig Achtundsechziger, ein Single oder geschieden, kam jedenfalls immer allein.
Albert Rösler schied aufgrund seines Alters aus. Falls er jemals Kinder hatte, waren diese erwachsen.
Frau Möhrle aus Nummer 14, eine zweiundsechzigjährige Witwe, sie erzählte ihm schon am ersten Tag ihres Zusammentreffens, dass ihr Sohn kein Interesse an einem Garten zeigte und beruflich oft verreiste. Enkelkinder gab es nicht.
Sein anderer Nachbar, die Nummer 13, Harry Kohl, hatte eine Tochter. Ein Teenager, ein mageres schüchternes Ding, wie Lorenz beobachten konnte, aber bisher hatte er das Mädchen nur einmal gesehen.
|81| Also von daher sah es um den gärtnerischen Nachwuchs schlecht aus.
Kein Wunder, wer bekam heutzutage noch Kinder? Bei manchen Besserverdienenden, die sich eigentlich Kinder leisten konnten, war der Steuervermeidungstrieb größer als der Fortpflanzungstrieb. So hatte es einmal ein Politiker treffend formuliert.
Auch saß die Angst, arbeitslos zu werden und auf Harz IV angewiesen zu sein, vielen im Nacken. Es gab zu wenig vernünftige, bezahlbare Wohnungen, es wurde an Kindergartenplätzen und Erziehern gespart. Die Situation an den Schulen war auch nicht besser, trotz Stundenausfall wurden nicht genügend Lehrer eingestellt. Und es würde noch schlimmer werden. Stuttgart würde sich bald verändern, dann würde es nicht mehr ‚Die Stadt zwischen Wald und Reben‘, sondern ‚Die Stadt zwischen Bagger und Presslufthammer‘ heißen, falls die Gröbaz, die größte Baugrube aller Zeiten, dieses Stuttgart 21, gebuddelt wurde. Der erste Spatenstich sollte im nächsten Frühjahr stattfinden. Dann blieb für Bildung, Kultur, Erziehung oder die Infrastruktur kein Geld mehr übrig. Schon jetzt wurde an allen Ecken und Kanten gespart, und so manches kleine Theater krebste am Ruin entlang. In den Schulen leisteten Eltern Malerarbeiten im Klassenzimmer, und viele Straßen sahen wie Schweizer Käse aus.
Und dies war nur der finanzielle Aspekt, vom ökologischen, dem Fällen uralter Platanen im Schlosspark und damit der Zerstörung des Stadtklimas, ganz zu schweigen. Lorenz erinnerte sich an den Sommer 2003, als die Bäume während der extremen Hitze ihre Photosynthese eingestellt hatten. Schon im Juli fielen die Blätter, wie sonst nur im Herbst, zu Boden. Jeder gefällte Baum bedeutete einen Schritt weiter in die Klimaveränderung.
Die Idee der Wetterstation kam zwangsläufig. Für einen Gärtner ist das Wetter ein wichtiger Faktor, wollte er die optimale Ernte erreichen. Lorenz musste das Klima beim Umgraben, dem Schneiden der Bäume, beim Säen oder bei der Ernte berücksichtigen. Außerdem konnte er so seinen Beitrag zu Analyse und Vorhersage leisten und diente damit letztendlich einer langfristigen Wetterprognose und Beurteilung des Klimawandels.
Die Station mit den Instrumenten war schnell eingerichtet, die Ausrüstung gab es im Internet. Mit seinem Motorroller fuhr Lorenz nun jeden Morgen und jeden Abend um die
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