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Blutkirsche

Blutkirsche

Titel: Blutkirsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Weitbrecht
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gleiche Zeit, egal ob die Sonne |82| schien oder ob es regnete, schneite oder stürmte, zu seiner Parzelle. Manchmal war er zu Fuß unterwegs, joggte die Walpenreute hinunter, kürzte über das Feld ab, entlang der Gärtnerei, wo er seine Pflanzen kaufte. Dann an zwei Steinmetzen vorbei – und das fand er geradezu surreal – bei einem stand eine uralte Straßenbahn hinter dem Haus, aber es gab keine Gleise, die auf die Straße führten.
    Die Stromabnehmer ragten über die Werkstatt hinaus, wie eine Antenne, die in die unendlichen Weiten des Alls hineinhörte.
     
    Als sein Bruder und er vierzehn wurden, bekamen sie an Weihnachten zusammen ein billiges Teleskop geschenkt.
    In kalten, klaren Sternennächten schlich Lorenz sich aus dem Haus und saß dick vermummt auf einem Hügel und versuchte durch die Teleskoplinse den Pferdekopfnebel – die Dunkelwolke des Orion – zu erkennen oder die geheimnisvolle, weit entfernte Andromeda-Galaxis. Er hatte sich vorgestellt, dass dort vielleicht ein anderes Leben keimte, das die Einsamkeit der Menschen mindern könnte. Seinen Traum, einmal als Astronaut die Jupitermonde Io, Callisto Europa und Ganymed, besuchen zu können, oder zum Mars, dem Roten Riesen, zu reisen, hegte er lange Jahre. Lorenz besaß alle Mars-Chroniken von Ray Bradbury.
    Er hätte vielleicht Physiker werden oder als Soldat zur Luftwaffe gehen müssen, um sich als Astronaut zu qualifizieren. Zu dem einen Beruf fehlte ihm sein Mathematikverständnis, den anderen wollte er nicht ergreifen, da er Pazifist war. Seine eher zufällige Wahl fiel auf ein Studium als Berufsschullehrer für Deutsch und Englisch. Er merkte, dass es ihm Spaß machte und er anscheinend dazu geeignet war.
    In manchen Nächten träumte er von einem Science-Fiction-Planeten, der zwei Sonnen besaß, von denen die eine rot am Horizont unterging, und die andere dem Tag ein bläuliches Licht verlieh, das eine unbarmherzige Klarheit verströmte. Lorenz wusste nicht, was diesen Traum verursachte, er nahm seine Tabletten schon eine Weile nicht mehr ein.
    Nur schwerfällig stand er auf, um seinen täglichen Weg abzuspulen, er fuhr um den Friedhof herum und die Grünewaldstraße hinauf bis zu seinem Garten.
    Dort führte er genau Buch über Regenmenge, Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Windgeschwindigkeit und Windrichtung – obwohl die Wind-Daten wegen der Lage des Grundstücks nicht ganz exakt waren, gab er sie trotzdem in den Computer ein und schickte sie zum Deutschen Wetterdienst und Wetterpool.
     
    |83| Aber der gestrige Freitag, der erste Tag des Kirschblütenfestes, verlief anders als die vorherigen. Der frühe Nachmittag war drückend schwül, ein Gewitter mit starken Sturmböen zog auf. Es entlud sich, danach fiel der Regen in kräftigen Schauern. Trotzdem wollte er seine Aufgabe als Wettermann erfüllen.
    Als er um achtzehn Uhr in seiner Parzelle ankam, lag ein Schreiben der Vereinsleitung in seinem Briefkasten.
    „Lieber Gartenfreund, da du in diesem Jahr noch keine Gemeinschaftsarbeit geleistet hast, möchten wir dich hiermit auffordern, morgen, Samstag, den 9. Mai ab elf Uhr im Festzelt als Springer Gläser abzuräumen und Tische zu säubern. Der Vorstand.“
    Was bildete der sich ein! Lorenz schäumte vor Wut. Klar hatte er in diesem Jahr die fälligen Arbeitsstunden für den Verein noch nicht abgeleistet, seine Mitgliedschaft bestand ja auch erst seit November, aber eine solche Aufforderung war schlicht und einfach unverschämt. Diesem Harry Kohl werd’ ich die Meinung sagen.
    Mit der Hacke in der Hand – in seinen Augen eine symbolische Geste für seinen Willen, freiwillig Gemeinschaftsarbeit zu leisten – marschierte Lorenz schnurstracks zur Parzelle seines Nachbarn und Vorsitzenden, dem Gartenfreund.
    Da keine Zäune seinen Garten Nummer 12 und den von Nummer 13 trennten, trat er, ohne sich bemerkbar zu machen oder ein lautes „Hallo“ zu sagen, über die unmarkierte Grenze der beiden Parzellen. Plötzlich sah er Harry wutentbrannt aus seiner Hütte stürmen und geradewegs auf Frau Möhrle in Nummer 14 zurennen. Harry schalt seine Nachbarin mit wüsten Worten aus. Anscheinend verdächtigte er sie, ihr Chemieklo am Donnerstag auf den Abhang hinter seinem Stückle entleert zu haben.
    Lorenz ließ sich von dem Gebrüll nicht beeindrucken. Er war kein Angsthase, sondern würde dem Vereinsvorstand gleich seine Meinung sagen, und wenn er dazu noch eine Stunde warten müsste.
    Die Tür von Harrys Laube stand offen.
    Neugierig warf

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