Blutkrieg
zählte.
Wie lange noch, das wusste Andrej nicht. Der Himmel über
ihnen war grau, eine einheitliche, konturlose Fläche, in der es
keine Wolken gab, aber auch keine Sonne, keinen Mond und
keine Sterne. Er wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war, oder
irgendetwas dazwischen.
Andrej war niemals abergläubisch gewesen, und er hatte trotz
– oder vielleicht gerade wegen – seines langen Lebens und all
der unheimlichen, sonderbaren Dinge, die er gesehen und erlebt
hatte, niemals an Übernatürliches oder gar Geister und Spuk
geglaubt.
Vielleicht war ja heute der Tag, an dem sich das ändern sollte.
Selbst Andrejs Zeitgefühl, das normalerweise präziser und
zuverlässiger war als jede Messmethode, hatte ihn im Stich
gelassen. Vor zwei oder drei Tagen – vielleicht auch vor zwei
oder drei Ewigkeiten, wer wusste das noch zu sagen? – waren
sie losgesegelt, zwei einsame Männer an Bord eines kaum noch
seetüchtigen Schiffes. Dessen schreckliche Fracht hatte aus
einer Ladung toter Krieger bestanden, und sie hatten
versprochen, die Leichen nach Hause zu bringen. Zuerst waren
sie in nördliche Richtung gesegelt, dann, nachdem der Sturm
über sie hergefallen war und zuerst den Tag, dann die gesamte
Welt rings umher ausgelöscht hatte, geradewegs hinein ins
Nirgendwo. Und schließlich, am Ende einer Reise, die so bizarr
und grauenvoll gewesen war, dass Andrej das Erlebte bis jetzt
nicht begreifbar schien, war die Küste am Horizont vor ihnen
aufgetaucht. Vielleicht war dies das Ende der Welt, vielleicht
aber auch etwas, was noch hinter dem Ende lag und nicht für
Menschen bestimmt war.
Andrej versuchte, den unheimlichen Gedanken abzuschütteln
und schlang den nassen Mantel enger um seine Schultern. Das
Gefühl lähmender Kälte, das seinen Körper längst durchdrungen
hatte und jede Kraft aus ihm herauszusaugen versuchte, wurde
dadurch noch schlimmer, doch er versuchte nicht, dagegen
anzukämpfen, sondern konzentrierte sich ganz auf den
beißenden Schmerz, der in seinen Gelenken und seinen Muskeln
wütete. Schon vor unendlich langer Zeit hatte er gelernt, dass
körperlicher Schmerz das kleinere Übel war, wenn man die
Wahl zwischen ihm und den eigenen Dämonen hatte.
Diesmal half es nicht. Statt ihn abzulenken, unterstrich der
Schmerz die erschreckende Unwirklichkeit des Anblicks, der
sich ihnen bot.
Andrej hatte gedacht, es könne nicht schlimmer kommen, nach
der Hölle auf See, dem verzweifelten Wettrennen gegen die
Zeit, das sie am Ende doch verloren hatten, und dem
anschließenden kräftezehrenden Kampf gegen die Brandung, die
sie schließlich achtlos auf einem Strand abgeladen hatte, der
nicht aus weißem Sand, sondern aus eisenhartem Eis mit
rasiermesserscharfen Graten und Kanten bestand. Doch es
konnte immer noch schlimmer kommen. Das, was er sah, ließ
ihn erstarren, so abrupt, als hätte ihn eine unsichtbare Hand
gegriffen und festgehalten.
So stand er nun da, zitternd und mit den Zähnen klappernd, und
wickelte sich immer enger in einen Mantel, der ihn nicht wärmte,
sondern ihm noch das allerletzte bisschen Wärme nahm.
Er starrte auf die weiße zerklüftete Landschaft, die sich
scheinbar endlos vor ihnen erstreckte. Der Anblick war bizarr,
fremdartig und falsch.
Der Sturm, der das sterbende Schiff mit seiner Riesenfaust
gepackt und mit aller Gewalt gegen die Riffe geschleudert hatte,
war hier immer noch fühlbar, obgleich die Felsen die Küste wie
eine natürliche, unsichtbar unter Wasser lauernde Wehrmauer
abschotteten. Er war nicht mehr so kraftvoll wie in dem
schrecklichen Moment, in dem sie aus dem eisigen Wasser auf
den Grund gekrochen waren, den sie für Land gehalten hatten,
aber doch immer noch verheerend genug. Die eisigen Klippen
und Wände lenkten seine Gewalt in heulende Böen um, rissen
sie in unzählige einzelne Wirbel und ließen winzige glitzernde
Gespenster aus tanzendem Eis und Schneestaub über die Ebene
hüpfen, die sich vor ihnen ausbreitete – bis hin zum Horizont.
»Habe ich schon erwähnt, dass es ein Fehler war, hierherzukommen, Pirat?«, murmelte er mit einer Stimme, die ebenso
brüchig und kalt war wie das Eis, auf dem sie standen.
Abu Dun antwortete, doch Andrej nahm ihn nicht wahr. Er
beschattete die Augen mit der Hand und suchte vergeblich nach
einem Wort, einem passenden Begriff oder auch nur nach einem Gefühl, um das zu beschreiben, was sich ihnen hinter Schleiern
aus aufgewirbeltem Pulverschnee offenbarte. Es waren
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