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Blutkrieg

Blutkrieg

Titel: Blutkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Gebilde
aus Eis und erstarrter Luft, die wie die gesplitterten Überreste
eines gläsernen Waldes aus der gewellten Landschaft wuchsen,
manche so klein, dass er sie eher erahnte als wirklich sah, andere
größer als der nubische Hüne, mit dem es ihn hier an den Rand
der Welt verschlagen hatte.
    Was er sah, verwirrte seine Sinne. Er erkannte keine Regel,
kein Muster, nach dem die unheimlichen Eisgebilde angeordnet
waren, kein Gesetz, dem sie gehorchten. Nicht einmal das Licht
hatte wirklich Bestand, sondern flackerte, kroch hierhin und
dorthin, als wäre alles in ständiger Bewegung – eine Welt auf
der Flucht vor sich selbst.
    Wenn er einmal glaubte, eine vertraute Form zu erkennen, eine
Linie, an die er sich klammern, ein Bild, das er erkennen konnte,
dann musste er, wenn er den Blick in eine andere Richtung
wandte, doch schnell einsehen, dass er sich geirrt hatte. Als wäre
diese Welt zu keinem anderen Zweck geschaffen worden als zu
dem, seine Sinne zu narren.
    Eine weitere eiskalte Böe traf Andrej und ließ ihn schaudern.
Seine Kleider klebten nass und schwer an seinem Körper,
schutzlos den peitschenden Hieben des Windes ausgesetzt, der
mit einem Mal noch heftiger als zuvor Fetzen weißer Wolken
aus Schnee und Eis heranwirbelte. Winzigen, scharfen Zähnen
gleich bissen sich feine Eisnadeln in sein ungeschütztes Gesicht,
so hartnäckig, ungestüm und wütend, als wollten sie ihn davon
abhalten, den glitzernden Eiswald näher in Augenschein zu
nehmen. Sie gehörten nicht hierher. Niemand gehört hierher,
dachte er, kein Mensch, nicht einmal Menschen wie wir.
    Abu Duns schwere, auf dem Schnee knirschende Schritte
rissen ihn aus seinen unguten Gedanken, wofür ihm Andrej im
Stillen dankbar war. »Was, beim Barte des Propheten, ist das
hier?«, murmelte der Nubier.
    Andrej warf ihm einen schrägen Blick zu. Beim Barte des
Propheten? Das war neu. Normalerweise war ein einfaches »Bei
Allah!« der stärkste Ausdruck von Überraschung, den sich der
Nubier gestattete. Er zuckte mit den Schultern.
    »Eine Insel?«, schlug er vor.
Abu Dun schenkte ihm einen bösen Blick, der allerdings durch
die Tatsache, dass sein Gesicht eisverkrustet war und seine
schwarzen Augenbrauen zu staubig weißen Büscheln gefroren
waren, viel von seiner beabsichtigten Wirkung einbüßte. »Eine
Insel, auf der wir irgendeinen schiffbaren Untersatz finden?«,
fragte er. Der riesige Nubier hielt neben Andrej an und schlug
ihm so kräftig mit der flachen Hand auf die Schulter, dass er
stöhnend in die Knie ging.
    Sein Körper war so ausgekühlt, dass selbst dieser
freundschaftliche Klaps schmerzte. »Aber vielleicht hast du ja
eine brillante Idee, wie wir von dieser gastlichen Insel wieder
herunterkommen – ohne Schiff?«
    »Hm«, machte Andrej, während er seine schmerzende Schulter
massierte. Entgegen seiner Gewohnheit antwortete er nicht mit
einer bissigen Bemerkung oder einem Scherz, sondern ließ erst
eine ganze Weile verstreichen, bevor er murmelte: »Ich verlasse
mich da ganz auf dein Urteil. Schließlich bist du ein Pirat – und
nicht ich.«
    » Flusspirat « , verbesserte ihn Abu Dun. »Und ich sehe hier
keinen Fluss. Gib mir einen, und ich bringe uns hier raus, keine
Frage.« Er winkte ab, als Andrej antworten wollte. »Außerdem
ist das hundertfünfzig Jahre her – oder waren es zweihundert?«
Er trat an Andrej vorbei und beschattete nun gleich ihm die
Augen mit der Hand. »Was ist das da? Dort oben? Das sieht aus
wie …«
    »Wie was?«, fragte Andrej alarmiert, als der nubische Riese
nicht weitersprach.
»Ich weiß nicht«, brummte Abu Dun, nachdem er etliche
schwere Atemzüge lang aus zusammengekniffenen Augen in
dieselbe Richtung gestarrt hatte. Andrej konnte dort rein gar
nichts außer wirbelndem Eis und tanzenden Gespenstern
ausmachen. »Eigentlich bist du ja für derartige Fragen
zuständig, Hexenmeister.«
Andrej zuckte gegen seinen Willen leicht zusammen. Abu Dun
nannte in bei jeder passenden – oder auch unpassenden –
Gelegenheit Hexenmeister, so, wie er sich umgekehrt keine
Gelegenheit entgehen ließ, den nubischen Riesen als Piraten zu
titulierten. Beides stimmte, und beides war unendlich weit von
der Wahrheit entfernt. Eine harmlose Frotzelei, die seit langem
zwischen ihnen zu einem lieb gewordenen Zeremoniell
geworden war. Hier und jetzt aber, an diesem besonderen Ort,
bekamen die Worte eine Bedeutung, die er ihnen nicht
zugestehen wollte.
Statt darauf

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