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Blutkrieg

Blutkrieg

Titel: Blutkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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drehte sich Gryla zu ihm herum. Andrej
erschrak, als er in ihr Gesicht blickte. Sie wirkte erschöpft, müde
und für einen winzigen Moment uralt, dann blinzelte er, und die
Vision war verschwunden. Jetzt sah sie wieder so alterslos aus
wie vorher, doch der erschöpfte Ausdruck auf ihrem Gesicht
war geblieben. »Schlecht«, antwortete sie mit einer matten,
unendlich müde klingenden Stimme, hob jedoch zugleich die
Hand zu einer beruhigenden Geste. »Aber er wird es überstehen,
keine Sorge.«
»Bestimmt?«, vergewisserte sich Andrej.
    Gryla wirkte ein bisschen verletzt, lächelte aber dennoch und
kam näher. »Nichts ist bestimmt, Andrej«, sagte sie. »Letzten
Endes liegt unser Schicksal in den Händen der Götter.«
    »Falls es sie gibt«, murmelte Andrej. Schon als er sie
aussprach, tat ihm die Bemerkung leid, doch Gryla reagierte
auch jetzt wieder nur mit einem angedeuteten matten Lächeln.
    »Dann nenn es von mir aus Zufall oder auch Schicksal«, sagte
sie. »Wo ist der Unterschied?«
Andrej wollte nicht darüber nachdenken. Er hatte sich diese
Frage schon unzählige Male gestellt und niemals eine Antwort
gefunden. Stattdessen sagte er endlich das, was er gleich hätte
sagen sollen: »Ich danke dir. Ohne dich hätte er es vielleicht
nicht geschafft.«
Gryla trat neben ihn ans Fenster und sah hinaus auf die weiße
und schwarze Einöde und das unentwegte Spiel des Windes,
bevor sie antwortete. »Nein.«
»Nein?«, murmelte Andrej. Was sollte das jetzt wieder
heißen?
»Nein«, sagte Gryla noch einmal. »Ohne mich hätte er es nicht
geschafft. Eine Weile war ich nicht einmal sicher, ob ich ihn
retten konnte. Aber dein Freund ist stark.« Sie riss ihren Blick
von der Öde draußen los und sah fragend zu Andrej hoch. »Bist
du genauso stark?«
»Nein«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Aber ich bin
auch kein Schwächling.«
»Ich weiß«, erwiderte Gryla mit einem sonderbaren Lächeln,
dann drehte sie sich wieder zum Fenster. Andrej fragte sich, was
es da draußen wohl Interessantes zu sehen gab für einen
Menschen, der schon so viele Jahre hier lebte und nichts als
diesen einen Anblick kannte.
»Wo sind wir hier, Gryla?«, fragte er. »Abu Dun und ich sind
weit in der Welt herumgekommen, aber ein Land wie dieses
habe ich nie zuvor gesehen.«
»Und es erschreckt dich, habe ich recht?«, wollte Gryla
wissen.
Erschrecken war vielleicht das falsche Wort, aber sie kam der
Wahrheit mit ihrer Frage nahe genug, dass er dennoch nickte.
»Das muss es nicht«, fuhr Gryla fort. »Dieses Land hat
durchaus seinen Reiz. Aber ich glaube, man muss hier geboren
sein, um ihn zu erkennen.«
»Wieso wird es hier niemals Nacht«, fragte Andrej, »oder
Tag?«
Gryla lachte ganz leise. »Oh, das wird es«, sagte sie. »Doch
die Tage dauern hier länger.«
»Länger?«, entfuhr es Andrej überrascht. »Abu Dun und ich
sind seit einer Woche unterwegs, und -«
»- ihr könntet noch viele Wochen unterwegs sein, bevor es
endgültig Nacht wird«, fiel ihm Gryla ins Wort. »Es ist
Mittsommer. Ihr hattet Glück.«
»Glück?!«, erwiderte Andrej zweifelnd, doch Gryla nickte
auch jetzt nur sehr ernst.
»Ja«, bestätigte sie, »denn ihr hättet ebenso gut auch des
Nachts hier ankommen können. Die Nächte dauern hier so lange
wie die Tage.«
Etwas in ihrem Blick veränderte sich, und das ungute Gefühl
kehrte zurück, das Andrej bereits zuvor verspürt hatte. Doch es
verging einige Zeit, und er musste ihre Worte noch zwei- oder
dreimal in Gedanken wiederholen, bevor ihm wirklich klar
wurde, was sie bedeuteten.
»Du … du hast mich hereingelegt«, sagte er leise.
Gryla lächelte. »Was hast du erwartet, Andrej?«, fragte sie,
während sie auf ihn zuglitt und mit einer raschen Bewegung die
Träger ihres Kleides von den Schultern gleiten ließ. »Ich bin
eine Hexe.«
    Andrej hatte einen Albtraum. Er rannte, so schnell er nur konnte,
aber er wusste trotzdem, dass er zu spät kommen würde. Steine,
Erdbrocken und Schnee spritzten im Takt seiner rasenden
Schritte unter seinen schweren Stiefeln hoch, als er den
gewundenen Pfad hinaufjagte, an dessen Ende sie gestern Abend
ihr Lager aufgeschlagen hatten; ein jämmerliches Fleckchen
halbwegs trockener Erde unter einem vorspringenden Felsen,
der kaum wirklichen Schutz vor der Kälte und den tobenden
Elementen bot und sie dennoch mehr schützte, als sie in den drei
zurückliegenden Tagen zu hoffen gewagt hatten.
    Irgendwann im Morgengrauen war er wach

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