Blutlinie
leise.
„Wenn es nach mir gegangen wäre, wüsstest du schon lange alles. Allerdings finde ich die Idee gut, dass dein Vater das übernimmt. Vielleicht klingt es bei ihm nicht so unwirklich. Verstehst du?“
Unwirklich kamen mir die letzten Tage schon jetzt vor. Da bedurfte es keiner Steigerung.
„Mein Vater wird das machen? Wir werden sehen, inwieweit ich durchdrehe“, scherzte ich. „Wo ist eigentlich Blood?“
„Auf dem Zimmer. Ich darf ihn nicht mit durchs Gebäude nehmen, das ist strikt verboten.“
„Und wo ist dein Zimmer?“
Brandon zog eine Augenbraue nach oben.
„Möchtest du mich mal besuchen?“
Wenn ich es nicht besser wüsste, war das ein ganz grober Anmachversuch…
„Nicht dich, aber deinen Hund“, erwiderte ich geschickt.
Er beugte sich zu mir.
„Ach, komm schon, du musst Blood nicht davor schieben. Ich bin auf dem gleichen Flur wie du, schräg gegenüber. Ich freue mich, wenn du mich mal besuchst. Vor allem nachts.“
Hatte ich was nicht mitbekommen? Kaum fühlte ich mich minimal besser und hatte mich wieder einigermaßen im Griff, fing wieder dieses Spiel von vorn an. Wollte er seine Chancen testen, mich durcheinander bringen, sehen, wie weit er gehen konnte?
„Ich würde dich auch mal gern beobachten, wenn du nichts davon weißt. Mal sehen, ob dir das gefallen würde“, sagte ich ärgerlich.
Dieser Typ war so undurchschaubar wie rätselhaft.
Ein verwegenes Lächeln erschien auf seine Lippen.
„Das kannst du auch so haben, dafür musst du nicht unsichtbar sein.“
Meine Ohren glühten, während ich in meine Tasse pustete.
Mir schwante, dass er gestern nur so nett zu mir war, weil es mir schlecht ging. Er konnte einfach nicht aus seiner Haut. Niemand änderte sich so schnell, und ganz sicher dieser arrogante Kerl nicht.
Brandon löste widerstrebend den Blick von mir. Der alte Butler stand an der Tür zum Speiseraum und nickte ihm zu.
„Deine Eltern sind da“, sagte er ernst zu mir, sein Lächeln war verschwunden.
Brandon begleitete mich zum Besprechungszimmer des Rates. Ich spürte, wie die Aufregung in mir wuchs. Das Blut rauschte in meine Ohren, meine Beine zitterten.
Bestärkend drückte er meine Hand, dann klopfte er an, hielt die Tür auf.
Und da saßen sie! Ich konnte es nicht fassen! Sofort sprangen Mom und Dad auf. Ich ging zwei Schritte hinein, zögerte, die Tür wurde geschlossen.
„Virginia“, hauchte meine Mutter und wischte sich hastig die Wangen ab.
Hatte sie etwa geweint? Beide hielten in ihren Bewegungen inne, sie schienen abzuwarten, was ich tun würde. Ich stand einfach da und betrachtete sie.
Mom, mit ihren wunderschönen blauen Augen und den blonden Haaren, die sie aufgesteckt trug. Ich hatte immer wieder zu hören bekommen, dass ich ihr so ähnlich war, auch der Haarfarbe wegen. Doch dies war nur ein Zufall gewesen. In dem grauen Rollkragenpullover mit den schwarzen Stoffhosen sah sie zerbrechlich aus. Wie sie dastand, und mich mit müden Augen ansah. Dads Blick aus einem tiefen Braun, das seine Iris umgab, war mir wohl vertraut. Ich liebte diesen Mann, auch wenn ich nun wusste, dass wir nicht verwandt waren. Wie oft hatte er mir gut zugeredet, mit mir gelacht, war für mich da gewesen. Ich konnte es nicht zählen. Ich musste zweimal hinschauen, weil ich nicht sicher war, ob mir meine Augen einen Streich spielten. Er hatte tatsächlich einen dunklen Anzug an. Dad gefiel mir darin, er wirkte wie ein Geschäftsmann. Seine schwarzen Haare waren kürzer.
„Hey“, sagte ich leise.
„Hallo, mein Schatz.“
Mein Dad kam einfach auf mich zu und nahm mich in einer sehr festen Umarmung gefangen. So war er, er handelte nach Gefühl, nicht nach dem Verstand, wie ich es so oft tat. Und vielleicht war das mein Fehler. Ich drückte ihn an mich, legte mein Gesicht auf seine Schulter und schluchzte. Mom stand plötzlich neben uns und streichelte meine Wange. Dankbar lächelte ich sie an, ich bekam kein Wort heraus. Meine Kehle war zugeschnürt, Tränen stiegen in mir auf, die ich kaum zurückhalten konnte.
„Liebling“, flüsterte meine Mutter kaum hörbar und küsste mich leicht auf die Wange.
Ich fühlte mich augenblicklich zu Hause, egal, was noch kommen würde. Diese beiden Menschen würden immer meine Familie sein.
Nach einer Weile hob ich den Kopf und sah meinen Vater an. Zärtlich strich er mir ein paar Haarsträhnen aus der Stirn.
„Das muss alles ein furchtbarer Schock für dich gewesen sein“, sagte er.
„Es war
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