Blutmale
lauschte dem Gemurmel der Stimmen seiner Tante und seines Onkels, die aus dem Arbeitszimmer im Erdgeschoss heraufdrangen. Es war dasselbe Zimmer, in dem Montague Saul sich in den vergangenen Monaten mit der Übersetzung seiner brüchigen alten Papyrusfetzen abgemüht hatte. Dasselbe Zimmer, in dem er vor fünf Tagen einen Schlaganfall erlitten hatte und an seinem Schreibtisch zusammengebrochen war. Diese Leute hatten dort nichts verloren, inmitten der kostbaren Schätze seines Vaters. Sie waren Eindringlinge in seinem Haus.
»Er ist doch noch ein Junge, Peter. Er braucht eine Familie.«
»Wir können ihn ja wohl kaum mit Gewalt nach Purity mitschleifen, wenn er es nicht will.«
»Mit fünfzehn Jahren hat man in diesen Dingen keine Wahl. Die Erwachsenen müssen für einen entscheiden.«
Der Junge stand auf und schlüpfte zur Tür hinaus. Lautlos stieg er bis zur Mitte der Treppe hinunter, um ihre Unterhaltung zu belauschen.
»Und sei mal ehrlich, wie viele Erwachsene hat er denn in seinem Leben kennengelernt? Dein Bruder zählt ja wohl kaum. Er war doch immer viel zu sehr in seine Mumien vertieft, um überhaupt wahrzunehmen, dass da noch ein Kind im Haus war.«
»Das ist nicht fair, Amy. Mein Bruder war ein guter Mensch.«
»Ein guter Mensch, aber weltfremd. Was muss das für eine Frau gewesen sein, die auch nur auf die Idee kommen konnte, ein Kind mit ihm zu haben? Und dann macht sie sich aus dem Staub und lässt Monty den Jungen allein großziehen? Ich begreife nicht, wie eine Frau so etwas tun kann.«
»Monty hat seine Sache ja wohl nicht so schlecht gemacht. Der Junge kriegt in der Schule glänzende Noten.«
»Das ist dein Kriterium für einen guten Vater? Die Tatsache, dass der Junge glänzende Noten bekommt?«
»Und außerdem ist er ein sehr beherrschter junger Mann. Du hast doch gesehen, wie gefasst er bei der Beerdigung war.«
»Er ist starr vor Schock, Peter. Hast du heute auch nur eine einzige Gefühlsregung in seinem Gesicht erkennen können?«
»Monty war ganz genauso.«
»Kaltblütig, meinst du?«
»Nein, ein Intellektueller. Ein Kopfmensch.«
»Aber tief drinnen muss der Junge doch den Schmerz fühlen, das weißt du genau. Ich könnte heulen, wenn ich daran denke, wie sehr ihm seine Mutter in diesem Moment fehlt. Wie er immer wieder steif und fest behauptet, dass sie ihn zu sich nehmen wird, wo wir doch genau wissen, dass sie es nicht tun wird.«
»Das wissen wir doch gar nicht.«
»Wir haben die Frau ja nie kennengelernt! Da schreibt Monty uns eines Tages aus Kairo, dass er jetzt einen kleinen Sohn hat. Nach allem, was wir wissen, könnte er ihn auch aus dem Schilf gefischt haben - wie den kleinen Moses.«
Der Junge hörte die Dielen über sich knarren und blickte sich zum oberen Treppenabsatz um. Zu seinem Erstaunen sah er seine Cousine Lily über das Geländer auf ihn herabstarren. Sie beobachtete ihn, studierte ihn wie eine exotische Kreatur, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, als wollte sie herausfinden, ob er gefährlich war.
»Oh«, rief Tante Amy. »Du bist ja auf!«
Seine Tante und sein Onkel waren gerade aus dem Arbeitszimmer gekommen und blickten vom Fuß der Treppe zu ihm auf. Und sie schienen auch ein wenig bestürzt angesichts der Tatsache, dass er wahrscheinlich ihr ganzes Gespräch mitgehört hatte.
»Geht es dir gut, Schatz?«, fragte Amy.
»Ja, Tante.«
»Es ist schon so spät. Solltest du nicht lieber wieder ins Bett gehen?«
Aber er machte keine Anstalten, nach oben zu gehen. Er blieb auf der Treppe stehen und dachte darüber nach, wie es wäre, bei diesen Leuten zu wohnen. Was er von ihnen lernen könnte. Es würde den Sommer interessant machen, bis seine Mutter ihn holen käme.
Er sagte: »Tante Amy, ich habe meinen Entschluss gefasst.«
»Welchen Entschluss?«
»Wo ich den Sommer verbringen will.«
Sie nahm sofort das Schlimmste an. »Bitte überstürze nichts! Wir haben ein wirklich schönes Haus, direkt am See, und du hättest dein eigenes Zimmer. Komm uns doch wenigstens einmal besuchen, ehe du dich endgültig entscheidest.«
»Aber ich habe mich schon entschieden, mit euch zu kommen.«
Seiner Tante verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Dann ließ ein Lächeln ihr Gesicht erstrahlen, und sie eilte die Treppe hinauf, um ihn in die Arme zu schließen. Sie roch nach Dove-Seife und Breck-Shampoo. So gewöhnlich, so durchschnittlich. Dann bekam er von seinem grinsenden Onkel Peter einen Klaps auf die Schulter - seine Art, seinen neuen Sohn
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