Blutmale
1
Sie sahen aus wie die perfekte Familie.
Der Gedanke drängte sich dem Jungen auf, als er am offenen Grab seines Vaters stand, als er dem Priester zuhörte, wie er Plattitüden aus der Bibel vorlas. Nur eine kleine Gruppe hat sich an diesem warmen, drückenden Junitag versammelt, um Montague Saul die letzte Ehre zu erweisen - nicht mehr als ein Dutzend Menschen. Viele von ihnen hatte der Junge gerade erst kennengelernt. Die letzten sechs Monate hatte er im Internat verbracht, und manche dieser Leute sah er heute zum ersten Mal. Die meisten interessierten ihn nicht im Geringsten.
Nur die Familie seines Onkels - die interessierte ihn sehr wohl. Sie war es wert, dass er sich näher mit ihr beschäftigte.
Dr. Peter Saul hatte große Ähnlichkeit mit seinem verstorbenen Bruder Montague. Er war schlank, ein intellektueller Typ mit einer Brille, die ihm ein eulen haftes Aussehen verlieh, und schütterem braunem Haar, das irgendwann unweigerlich einer Glatze weichen würde. Seine Frau Amy hatte ein rundes, freundliches Gesicht, und sie warf ihrem fünfzehnjährigen Neffen unentwegt besorgte Blicke zu, als müsse sie sich beherrschen, um ihn nicht auf der Stelle an ihre Brust zu drücken. Teddy, der Sohn der beiden, war zehn Jahre alt, ein Knabe mit streichholzdünnen Armen und Beinen. Ein kleiner Klon von Peter Saul, bis hin zu der runden Gelehrtenbrille.
Und dann war da noch ihre Tochter Lily. Sechzehn Jahre alt.
Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und klebten in der schwülen Hitze an ihren Wangen. Sie schien sich unbehaglich zu fühlen in ihrem schwarzen Kleid, und wie ein nervöses Fohlen trat sie immer wieder von einem Fuß auf den anderen, als wollte sie jeden Augenblick davonrennen. Als wäre sie in diesem Moment überall lieber als auf diesem Friedhof, umschwirrt von lästigen Fliegen.
Sie sehen so normal aus , so gewöhnlich, dachte der Junge. So anders als ich . Da fing Lily plötzlich seinen Blick auf, und ein Schauer der Verwunderung überlief ihn. Des gegenseitigen Erkennens. In diesem Augenblick konnte er geradezu spüren, wie ihr Blick die dunkelsten Windungen seines Gehirns durchdrang und all die geheimen Orte erforschte, die nie mand sonst je zu sehen bekam. Die er nie einem Menschen offenbart hatte.
Beunruhigt wandte er den Blick ab, richtete ihn auf die anderen Menschen, die um das Grab herumstanden. Die Haushälterin seines Vaters. Den Anwalt. Die beiden Nachbarn. Flüchtige Bekannte, die nur gekommen waren, weil es sich so gehörte, nicht aus wirklicher Zuneigung. Sie hatten Montague Saul nur als den stillen Wissenschaftler gekannt, der vor Kurzem aus Zypern zurückgekehrt war, der sich tagaus, tagein nur mit seinen alten Büchern und Karten und irgendwelchen Tonscherben befasst hatte. In Wirklichkeit hatten sie den Mann gar nicht gekannt. So wenig wie seinen Sohn.
Endlich war die Zeremonie beendet, und die Trauergäste nah men den Jungen in die Mitte, eine Amöbe aus Mitgefühl, bereit, ihn zu verschlingen. Sie versicherten ihm, wie furchtbar leid es ihnen tue, dass er seinen Vater verloren habe. Und das so bald nach ihrer Rückkehr in die Staaten.
»Immerhin hast du noch deine Familie hier, die dir hilft«, sagte der Geistliche.
Familie? Ja, diese Leute sind wohl meine Familie , dachte der Junge, als der kleine Teddy schüchtern auf ihn zutrat, gedrängt von seiner Mutter.
»Du bist jetzt mein Bruder«, sagte Teddy.
»Tatsächlich?«
»Mom hat dein Zimmer schon fertig vorbereitet. Es ist gleich neben meinem.«
»Aber ich bleibe hier. Im Haus meines Vaters.«
Verwirrt sah Teddy seine Mutter an. »Kommt er denn nicht mit zu uns?«
»Du kannst doch nicht ganz allein wohnen, Schatz«, beeilte sich Amy Saul zu sagen. »Vielleicht gefällt es dir ja in Purity so gut, dass du ganz bei uns bleiben willst.«
»Meine Schule ist in Connecticut.«
»Ja, aber das Schuljahr ist jetzt um. Im September kannst du natürlich wieder auf dein Internat gehen, wenn du das möchtest. Aber den Sommer über wirst du bei uns wohnen.«
»Ich werde hier nicht allein sein. Meine Mutter holt mich zu sich.«
Es war lange Zeit still. Amy und Peter wechselten Blicke, und der Junge konnte erraten, was sie dachten. Seine Mutter hat ihn doch schon vor langer Zeit im Stich gelassen.
»Sie wird mich zu sich holen«, beharrte er.
»Darüber reden wir später, mein Sohn«, sagte Onkel Peter mit sanfter Stimme.
In der Nacht lag der Junge wach in seinem Bett im Reihenhaus seines Vaters und
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