Blutmale
willkommen zu heißen. Ihr Glück war wie ein Netz aus Zuckerwatte, das ihn in ihre Welt hineinzog, wo alles eitel Sonnenschein, Liebe und Lachen war.
»Die Kinder werden so froh sein, dass du mit uns kommst!«, sagte Amy.
Er warf einen Blick zum oberen Treppenabsatz, aber Lily war verschwunden. Sie hatte sich unbemerkt davongeschlichen. Ich muss ein Auge auf sie haben, dachte er. Denn sie hat schon jetzt ein Auge auf mich.
»Du gehörst jetzt zu unserer Familie«, sagte Amy.
Während sie zusammen die Treppe hinaufstiegen, erzählte sie ihm bereits von ihren Plänen für den Sommer. All die Orte, die sie ihm zeigen würde, all die besonderen Gerichte, die sie für ihn kochen würde, wenn sie wieder zu Hause wären. Sie schien glücklich, ja geradezu freudetrunken, wie eine Mutter mit ihrem neugeborenen Baby.
Amy Saul ahnte nicht, was sie sich da ins Haus zu holen planten.
2
Zwölf Jahre später.
Vielleicht war es ja ein Fehler.
Dr. Maura Isles blieb vor dem Eingang der Kirche Unse rer lieben Frau vom Himmlischen Licht stehen, unschlüssig, ob sie eintreten sollte oder nicht. Die Gottesdienstbesucher waren schon hineingegangen, und sie stand allein in der nächtlichen Dunkelheit, wo Schneeflocken lautlos auf ihren unbedeckten Kopf herabrieselten. Durch die geschlossenen Kir chentüren hörte sie die Organistin »Nun freut euch, ihr Christen« anstimmen, und sie wusste, dass inzwischen alle ihre Plätze eingenommen haben mussten. Wenn sie vorhatte, sich ihnen anzuschließen, sollte sie allmählich hineingehen.
Sie zögerte, weil sie nicht wirklich zu den Gläubigen gehörte, die sich dort drinnen zur Messe versammelt hatten. Doch die Musik lockte sie, wie auch die Aussicht auf die Wärme und auf den Trost vertrauter Rituale. Hier draußen auf der dunklen Straße stand sie allein. Allein an Heiligabend.
Sie stieg die Stufen hinauf und betrat das Gebäude.
Trotz der späten Stunde waren die Bänke voll besetzt mit Familien, die Kinder schlaftrunken, aus den Betten geholt, um an der Mitternachtsmesse teilzunehmen. Mit ihrem verspäteten Eintreffen zog Maura mehrere Blicke auf sich, und als die Klänge von »Nun freut euch, ihr Christen« verhallten, schlüpfte sie rasch auf den ersten freien Platz, den sie finden konnte, in einer der hinteren Reihen. Gleich darauf musste sie sich mit der ganzen Gemeinde wieder erheben, als der Einzugsgesang einsetzte. Pater Daniel Brophy trat an den Altar und bekreuzigte sich.
»Die Gnade und der Friede unseres Vaters im Himmel und unseres Herrn Jesus Christus sei allezeit mit euch«, sagte er.
»Und mit deinem Geiste«, murmelte Maura im Chor mit der Gemeinde. Selbst nach all den Jahren, die sie der Kirche ferngeblieben war, kamen ihr die Antworten immer noch ganz natürlich über die Lippen, durch all die Sonntage ihrer Kindheit tief in ihr Gedächtnis eingeprägt. »Herr, erbarme dich. Christus, erbarme dich. Herr, erbarme dich.«
Daniel hatte ihr Kommen nicht bemerkt, doch Maura war nur auf ihn fixiert. Auf sein dunkles Haar, seine anmutigen Gesten, seine wohlklingende Baritonstimme. Heute Nacht konnte sie ihn ohne Scham ansehen, ohne Verlegenheit. Heute Nacht konnte sie ihn gefahrlos anstarren.
»Gib uns die ewige Seligkeit im Himmelreich, wo er mit dir und dem Heiligen Geist lebt und herrscht in Ewigkeit, amen.«
Maura ließ sich auf die Bank niedersinken, hörte ringsum gedämpftes Husten, das Wimmern müder Kinder. Auf dem Al tar flackerten Kerzen, ein Symbol für Licht und Hoffnung in dieser Winternacht.
Daniel begann zu lesen: »Und der Engel sprach zu ihnen: ›Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkünde euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird …‹«
Das Lukasevangelium, dachte Maura, die den Text sogleich erkannte. Lukas, der Arzt.
»›Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln …‹« Er hielt inne, als sein Blick plötzlich Maura streifte. Und sie dachte: Bist du so überrascht, mich heute Nacht hier zu sehen, Daniel?
Er räusperte sich, blickte auf seinen Text hinunter und las weiter: »›Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.‹«
Obwohl er nun wusste, dass sie inmitten seiner Schäf lein saß, mied er jeden weiteren Blickkontakt mit ihr. Weder während des »Cantate Domino« und des »Dies Sanctificatus« noch während der Kollekte oder der Eucharistiefeier. Während die anderen Gottesdienstbesucher um sie herum sich erhoben und sich im Mittelgang anstellten, um die Kommunion
Weitere Kostenlose Bücher