Blutmusik
Es
war Wirklichkeit. Ihre Brüder hatten sie nicht zu Hause abgeholt
– das konnte nicht Wirklichkeit gewesen sein, nicht wahr?
–, sondern sie mit dem Aufzug heraufgebracht, und nun war sie
bei ihrer Mutter, die sie warm und liebevoll empfing und ihr Essen
vorsetzte.
Und über der Schulter ihrer Mutter, außerhalb der
breiten Fenster, die veränderte Stadt. Das konnte sie sich nicht
einbilden, oder?
Sie löste sich von ihrer Mutter, wischte sich die Augen und
blickte von ihr zu Kenneth und Howard. »Was geht vor,
Mutter?«
»Als ich dich das letzte Mal sah, waren wir in der
Küche«, sagte ihre Mutter und betrachtete sie von Kopf und
Fuß. »Ich war damals nicht sehr gesprächig. Vieles
geschah gleichzeitig.«
»Du warst krank«, sagte Suzy.
»Ja… und nein. Komm, setz dich! Du mußt sehr
hungrig sein.«
»Ich habe zwei Wochen geschlafen. Ich hätte verhungern
müssen«, sagte sie.
»Sie glaubt es noch immer nicht«, sagte Howard
grinsend.
Ihre Mutter winkte ab. »Still! Ihr würdet es auch nicht
glauben, keiner von euch beiden.«
Sie gaben es zu.
»Aber ich bin doch hungrig«, sagte Suzy. Kenneth zog ihr
einen Stuhl heraus, und sie setzte sich vor ein makelloses
Tischgedeck aus feinem Porzellan und Silber.
»Wir haben es wahrscheinlich zu vornehm gemacht«, sagte
Howard. »Zu sehr wie einen Traum.«
»Ja«, sagte Suzy. Sie fühlte sich benommen,
glücklich, und inzwischen war ihr gleich, was wirklich und was
nicht wirklich war. »Ihr Clowns habt übertrieben.«
Ihre Mutter häufte Schinken und Salate auf Suzys Teller, und
Suzy zeigte auf das Kartoffelmus und die Bratensoße.
»Zum Mästen«, sagte Kenneth.
Suzy schnalzte, führte die erste Gabel voll Schinken zum Mund
und kaute darauf. Echt. Der Biß der Zähne auf die Gabel:
echt. »Wißt Ihr, was geschehen ist?«
»Nicht alles«, sagte ihre Mutter und setzte sich zu
ihr.
»Wir können jetzt viel klüger sein, wenn wir
wollen«, sagte Howard. Einen Augenblick lang fühlte Suzy
sich verletzt; meinte er sie? Howard hatte sich immer seiner Noten
geschämt, er war ein fleißiger Schüler gewesen, der
sich angestrengt hatte, aber er war alles andere als begabt. Immerhin
war er noch klüger als seine langsame Schwester.
»Wir brauchen nicht mal unsere Körper«, sagte
Kenneth.
»Nicht so schnell!« ermahnte ihre Mutter sie. »Es
ist sehr verwickelt, liebes Kind.«
»Wir sind jetzt Dinosaurier«, sagte Howard und nahm sich
im Stehen vom Schinken. Dann machte er ein Gesicht und ließ den
Bissen wieder fallen.
»Als wir krank waren…«, begann ihre Mutter.
Suzy legte die Gabel aus der Hand und kaute nachdenklich. Sie
hörte nicht auf ihre Mutter, sondern lauschte anderen Stimmen,
die von innen kamen.
Heilen dich
Pflegen dich.
Brauchen…
»Ach du lieber Gott«, murmelte sie mit vollem Mund. Sie
schluckte und blickte zu den anderen. Sie hob die Hand. Weiße
Schwielen zogen sich über den Handrücken und die Gelenke,
verloren sich in schwach ausgeprägten Verzweigungen unter der
Haut ihres Armes.
»Sei nicht bange, Suzy«, sagte ihre Mutter. »Bitte
ängstige dich nicht. Sie ließen dich in Ruhe, weil sie
nicht in deinen Körper eindringen konnten, ohne dich zu
töten. Du hast eine ungewöhnliche Chemie, mein Kind. Du und
ein paar andere. Das ist jetzt kein Problem mehr. Aber du hast die
Wahl, Kind. Hör auf uns… und auf sie! Sie sind jetzt viel
mehr verfeinert, Suzy, viel klüger als sie zur Zeit
unserer… Umwandlung waren.«
»Dann bin ich jetzt auch krank, nicht wahr?« fragte
Suzy.
»Es gibt so viele von ihnen«, sagte Howard mit einer
alles umfassenden Armbewegung zum Aussichtsfenster, »daß
du alle Sandkörner auf Erden und jeden Stern am Himmel
zählen könntest, ohne ihre Zahl zu erreichen.«
»Nun hör gut zu!« sagte Kenneth und beugte sich zu
seiner Schwester nieder. »Du hörst immer auf mich, nicht
wahr, Sämling?«
Sie nickte wie ein Kind, langsam und besonnen.
»Sie wollen nicht verletzen, oder töten. Sie brauchen
uns. Wir sind ein kleiner Teil von ihnen, aber sie brauchen
uns.«
»Ja?«
»Sie lieben uns«, sagte ihre Mutter. »Sie sagen,
sie kommen von uns und lieben uns wie… wie du deine Wiege
liebst, die im Keller.«
»Wie wir Mama lieben«, sagte Kenneth. Howard nickte
feierlich.
»Und nun geben sie dir die Wahl.«
»Was für eine Wahl?« fragte Suzy. »Sie sind
schon in mir.«
»Die Wahl, ob du weitermachen möchtest, wie du bist,
oder ob du dich zugesellen willst.«
»Aber ihr seid jetzt wieder wie
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