Blutnebel
stählerne Bahre herausfahren. Langsam zog er das Laken zurück, bis die Tote zum Vorschein kam, und Ramsey wusste, dass er dem anderen Mann Zeit lassen wollte, um sich seelisch auf den Anblick vorzubereiten.
Doch sogleich sackten Graysons Schultern zusammen, und er schüttelte langsam den Kopf. »Das ist sie nicht«, krächzte er. »Das ist nicht meine Joanie Lyn.«
Er wandte sich mit so erschütterter Miene ab, dass Ramsey ihm zur Seite eilte, da sie fürchtete, er werde zusammenbrechen. Sie und Mark halfen ihm aus der Leichenhalle und begleiteten ihn den Korridor entlang und auf die Straße hinaus, ohne dass der Mann auch nur noch ein einziges Wort gesagt hätte.
Rollins löste sich von ihm, um ihm die Autotür aufzumachen, doch ehe er einstieg, richtete Grayson noch einmal das Wort an Ramsey. »Das ist jetzt das vierte Mal.« Sie warf Rollins einen fragenden Blick zu, da sie nicht verstand, doch da sprach Grayson bereits weiter. »Vier Mal bin ich in den letzten sechs Jahren an einen solchen Ort gekommen. Manchmal in der Hoffnung, Gott steh mir bei, meine Tochter auf so einer Bahre liegen zu sehen. Dann wüssten wir wenigstens Bescheid.«
»Es muss die schrecklichste Aufgabe sein, die einem Elternteil abverlangt werden kann«, murmelte sie mit zugeschnürter Kehle.
»Finden Sie heraus, wer sie ist, Miss Clark.« Seine braunen Augen wandten sich von ihr ab, und er musterte lange das Gebäude. »Weiter will ich nichts. Finden Sie heraus, wie das Mädchen heißt, damit ihr Daddy nicht ins Grab sinken muss, ohne je zu erfahren, was aus seiner kleinen Tochter geworden ist.«
»Wir tun unser Bestes.« Sie hütete sich davor, Versprechungen abzugeben. Doch sobald Grayson im Wagen saß und der Sheriff losfuhr, legte sie das Versprechen im Stillen dennoch ab. Denn sie kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass sie nicht ruhen würde, ehe sie genau das getan hatte.
»Sie haben ja den Bericht.« Rechtsmediziner Don Wilson, der Mann in der OP-Montur, den sie bereits von vorhin kannte, zog die Bahre mit der Toten ein weiteres Mal heraus, diesmal weit weniger behutsam. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst noch sagen soll.«
Ramsey zückte ihre Kamera und machte ein Foto nach dem anderen von dem blutleeren Gesicht des Opfers. »Ich interessiere mich für ihren Mageninhalt. Haben Sie vielleicht etwas davon aufgehoben, was wir testen lassen können?«
»Das hab ich den Leuten vom TBI gegeben. Vermutlich schicken sie es zum Labor in Knoxville, wo es bei deren Überlastung dann bis nächstes Jahr liegen bleibt.«
Sie unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Die Substanz war also sichergestellt worden. Powell hatte erwähnt, dass die materiellen Spuren vom Fundort der Leiche sowie die Fingerabdrücke nach Knoxville geschickt worden waren. Alles andere – einschließlich des Mageninhalts – wurde vermutlich im Sheriffbüro gelagert, bis das mobile Labor eintraf. Man konnte nicht wissen, ob weitere Tests daran vorgenommen werden konnten, doch der Wissenschaftler, den Raiker schicken wollte, war ein Superhirn, wenn auch vielleicht ein bisschen exzentrisch. Falls überhaupt mehr herauszufinden war, würde Jonesy jedenfalls dahinterkommen.
Sie trat näher an die Leiche heran und stellte die Kamera für eine Nahaufnahme der Würgemale am Hals der Toten ein. »Im Bericht steht, dass das Zungenbein gebrochen ist.«
»Ich habe auch Frakturen an den Knorpeln von Luftröhre und Kehlkopf gefunden. Sehen Sie das?« Er zeigte auf die Augen der Toten.
»Punktförmige Blutungen.«
»Genau. Der Tod ist durch manuelle Strangulation eingetreten, ehe sie ins Wasser geworfen wurde.«
»Glaube ich auch. Aber Ihre Erkenntnisse standen ja im Bericht. Ich interessiere mich für die Dinge, die nicht darin gestanden haben.«
»Es war alles drin«, versicherte Wilson. »Ich kenne die Vorschriften. Was wir reinschreiben müssen, hat auch dringestanden.«
Ramsey senkte die Kamera. »Ich meine nicht das, was Sie den Vorschriften nach hineinschreiben müssen. Ich interessiere mich für das, was Sie nicht in den Bericht schreiben konnten, weil Ihnen die Beweise dafür fehlen. Eindrücke, die Sie im Lauf der Obduktion gewonnen haben.«
Er schwieg einen Moment lang und sah sie aus mitternachtsblauen Augen an. »Es ist nicht meine Aufgabe …«
Sie seufzte stumm. »Sie sind doch ein Mensch, nicht wahr?« Mensch genug, um ihr langsam auf die Nerven zu gehen. »Sie bilden sich bei der Arbeit Meinungen. Manche davon bestätigen sich,
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