Blutnebel
regionale und überregionale Datenbanken laufen lassen, doch weder Fingerabdrücke noch Tätowierungen hatten einen Treffer ergeben, also war die Frau noch nie irgendwo erfasst worden.
Ramsey griff sich ein paar Bilder. Die Leiche war mit dem Gesicht nach unten im Teich aufgefunden worden. Die kleine Wassermenge in ihrer Lunge belegte, dass sich ihre Organe erst ganz allmählich passiv zu füllen begonnen hatten. Sie war schon tot gewesen, bevor man sie dort abgelegt hatte.
Ramsey musterte die Fotos, die die Verletzungen am Hals der Toten zeigten. Sie war durch manuelle Strangulation gestorben. Eine sehr persönliche Art, jemanden umzubringen. Der Bericht sprach von gewaltsamem vaginalem und analem Geschlechtsverkehr kurz vor dem Tod. Abschürfungen an der Vulva und den inneren Oberschenkeln. Analfissuren und ein Dammriss. Das Ausmaß der Verletzungen ließ mehrere Täter möglich erscheinen. Falls irgendeiner ihrer Angreifer Spuren auf ihrem Körper hinterlassen hatte, so hatte der Aufenthalt im Wasser diese zerstört.
Und das, so sinnierte Ramsey grimmig, könnte ein weiterer Grund dafür sein, dass der Täter so tief in den Wald vorgedrungen war, um sich der Leiche zu entledigen. Wasser eignete sich hervorragend zum Zersetzen von Spuren. Was die Fische übrig ließen, wäre nach ein oder zwei Tagen nicht mehr erkennbar.
Doch der Mörder hatte keine ein oder zwei Tage bekommen.
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht, aber es würde noch eine ganze Weile dauern, ehe sie schlafen ging – vor allem, da der Wald noch ganz weit vorn in ihren Gedanken lauerte. Schlaf konnte ein solches Erlebnis zu albtraumhaften Proportionen aufblähen und Vergangenheit und Gegenwart so realistisch verquicken, dass sie mit einem Hämmern in der Brust, rasendem Puls und vom Geschmack nackter Angst halb erstickt erwachen würde. Und dann würde sie sich erbärmlich schwach und wehrlos fühlen.
Ramsey war aber nicht schwach oder wehrlos. Nicht mehr. Schon lange nicht mehr.
Entschlossen blätterte sie eine weitere Seite des Berichts um. Sie war es gewohnt, später in Ermittlungen einzusteigen und sich erst einmal einlesen zu müssen, bis sie sich mit den Fakten ebenso gut auskannte wie diejenigen, die von Anfang an dabei gewesen waren. Außerdem sah sie sich die Unterlagen gern unvorbelastet an, noch ehe ihr irgendjemand zu viel erzählt hatte, wodurch sich womöglich ihre Wahrnehmung verschob und ihr der Blick in eine neue Richtung verstellt wurde.
Die Fotos fesselten erneut ihre Aufmerksamkeit. Erwürgen war manchmal ein Verbrechen aus Leidenschaft. Doch auf dem Körper der Toten gab es keine Fingerabdrücke, was hieß, dass entweder der kurze Aufenthalt im Wasser sie ausgelöscht oder der Mörder Handschuhe getragen hatte, was auf ein geplantes Verbrechen hinwies.
Ramsey wandte sich der nächsten Seite im Bericht des Rechtsmediziners zu. Sie überflog die Daten über Gewicht und Zustand der inneren Organe der Toten und suchte den Teil, in dem von ihrem Mageninhalt die Rede war.
Eine kleine Menge Wasser und eine unbekannte Substanz, die lediglich als »Pflanzenderivat« bezeichnet wurde, waren kurz vor dem Tod geschluckt worden. Ramsey neigte den Kopf zur Seite und überlegte, was das wohl heißen mochte.
Ein Essensrest wäre leicht zu testen und zu identifizieren gewesen, doch ein Pflanzenderivat? Ramsey konnte es sich nicht erklären. Was würde wohl in diese Kategorie fallen? Blätter? Baumrinde? Wurzeln?
Ratlos lehnte sie sich zurück und spielte mit ihrem Stift. Es gab immer wieder Leute, die mit neuen Methoden experimentierten, um high zu werden. Und es gab unzählige Kräuterkundler, die pflanzliche Mittel gegen Krankheiten ersannen. Selbst Pharmafirmen experimentierten mit verschiedenen Rindenarten für die Entwicklung neuer Medikamente.
Ramsey griff nach ihrem Notizbuch, notierte »Mageninhalt – Pflanzenderivat??« und unterstrich es zweimal. In Gedanken drückte sie die Daumen, dass der Rechtsmediziner die unbekannte Substanz aufbewahrt hatte, damit man sie weiteren Tests unterziehen konnte.
Langsam machte sich ihre Erschöpfung durch nachlassende Konzentration bemerkbar. Sie hatte bereits einen langen Tag hinter sich, doch sie wollte unbedingt den Bericht zu Ende lesen und ihn auf die wichtigsten Anhaltspunkte hin abklopfen.
Es würde interessant werden, ihre Schlussfolgerungen mit jenen von Powell und Matthews zu vergleichen.
Draußen fuhr ein Fahrzeug über den Kies, doch Ramsey sah erst auf, als
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