Blutnetz
verworrenen Brief. Er beendete ihn mit den Worten »Verzeih mir« und setzte Arthur Langners Signatur darunter.
Dann begab er sich mit dem Jod und dem Ammoniakwasser ins Badezimmer des Konstrukteurs. Mit dem Kolben seiner Nambu-Pistole zertrümmerte er die Jodkristalle auf dem Rand des Marmorwaschbeckens zu einem feinen Pulver und füllte es in eine Rasierschale. Nun wischte er die Pistole mit dem Handtuch ab und achtete darauf, einen violetten Flecken auf dem Stoff zu hinterlassen. Dann träufelte er Ammoniakwasser auf das Jodpulver und rührte mit dem Stiel von Langners Zahnbürste darin herum, bis er eine Paste aus Stickstoffjodid erhielt.
Er öffnete den Deckel des Flügels und schmierte die Paste an dem schmalen und von den Tasten am weitesten entfernten Ende auf die dicht beieinanderliegenden Saiten des Instruments. Sobald sie getrocknet war, würde die explosive Mischung äußerst instabil und extrem stoßempfindlich sein. Ein leichtes Vibrieren würde bereits ausreichen, um einen lauten Knall und einen grellen Blitz auszulösen. Dabei würde die Explosion nur wenig mehr beschädigen als das Klavier. Aber als Zünder wäre sie tödlich.
Er legte den Seidenbeutel dicht über den Saiten auf den Rand des gusseisernen Rahmens. Der Beutel enthielt genügend raucharmes modifiziertes Kordit, um ein zwölf Pfund schweres Geschoss zwei Meilen weit fliegen zu lassen.
Yamamoto Kenta, dessen Augen vom Ammoniakwasser immer noch brannten, verließ die Naval Gun Factory auf dem gleichen Weg, auf dem er sie betreten hatte. Plötzlich lief jedoch einiges schief. Das nördliche Eisenbahntor wurde durch eine unerwartete nächtliche Aktivität blockiert. Rangierlokomotiven schoben und schleppten unter den Kommandos zahlreicher Bremser offene Güterwagen herein und hinaus. Er zog sich tiefer in das Waffendepot zurück, vorbei am Maschinenhaus, und suchte sich seinen Weg durch ein Labyrinth aus Straßen, Gebäuden und Lagerhäusern. Indem er sich an den Schornsteinen des Maschinenhauses und zwei Funkantennentürmen orientierte, die er als scharf gezeichnete Silhouetten vor dem mondhellen Nachthimmel erkennen konnte, durchquerte er einen kleinen Park und einen Garten, der von stattlichen Ziegelbauten begrenzt wurde. Darin wohnten die Familien des Kommandanten und der Offiziere der Marinewerft.
In diesem Bereich stieg das Gelände leicht an. Im Nordwesten war das Capitol zu sehen, wie es scheinbar über der Stadt schwebte. Er betrachtete es als ein weiteres Symbol der furchteinflößenden Macht Amerikas. Welche andere Nation hätte die größte gusseiserne Gebäudekuppel errichten können, während in ihren Grenzen gleichzeitig ein Bürgerkrieg tobte? Er hatte den Seiteneingang fast erreicht, als er auf einem schmalen Weg von einem Wachtposten überrascht wurde.
Yamamoto Kenta hatte gerade noch Zeit, sich in eine Hecke zu drücken.
Wenn er jetzt geschnappt werden würde, wäre das eine Schande für Japan. Er hielt sich mit dem offiziellen Auftrag in Washington, D.C., auf, bei der Katalogisierung einer kürzlich erfolgten Schenkung der Freer Collection von asiatischer Kunst an das Smithsonian Institute behilflich zu sein. Diese Tarnung gestattete ihm den Zutritt zum diplomatischen Corps und zu den Kreisen mächtiger Politiker, deren Ehefrauen sich für kunstsinnig hielten und jede seiner Äußerungen über japanische Kunst gierig aufsogen. Echte Experten des Smithsonian hatten ihn bereits zweimal bei gravierenden Fehlern ertappt. Ihnen gegenüber hatte er die Lücken in seinem überhastet erworbenen Wissen mit seinen mangelhaften Englischkenntnissen entschuldigt. Bislang hatten sich die Experten mit dieser Begründung auch zufriedengegeben. Aber es gäbe ganz sicher keine plausible Erklärung dafür, dass ein japanischer Fachmann für asiatische Kunst zu nächtlicher Stunde im Washington Navy Yard aufgegriffen wurde.
Der Nachtwächter kam mit knirschenden Schritten den kiesbestreuten Weg herauf. Yamamoto Kenta zog sich noch tiefer in seine Deckung zurück und zückte seine Pistole - als letzte Rettung seiner Anonymität. Ein Pistolenschuss würde jedoch die Marinesoldaten aus ihren Baracken am Haupttor herauslocken. Er wühlte sich in die Hecke hinein und suchte nach einer Lücke zwischen den Zweigen, um auf die andere Seite zu gelangen.
Der Nachtwächter hatte keinen Anlass, einen Blick auf die Hecke zu werfen, als er daran entlangtrottete. Doch Yamamoto Kenta schob sich weiter zwischen den widerspenstigen Zweigen und Ästen
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