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Blutrot wie die Wahrheit

Blutrot wie die Wahrheit

Titel: Blutrot wie die Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.B. RYAN
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begegneten ihr mit leisem Argwohn und einer gewissen Herablassung; manche gar, wie August Hewitt und sein Sohn Harry, suchten ihre Abneigung erst überhaupt nicht zu verbergen.
    Und so gab es im Haushalt der Hewitts – und eigentlich im gesamten Mikrokosmos aus Pomp und Privilegien, in dem die Bostoner Oberschicht sich seit Generationen eingerichtet hatte – niemanden, der so gewesen wäre wie Nell. Keine Nische tat sich in der streng hierarchisch gegliederten Bostoner Gesellschaft für sie auf, es gab keine anerkannten Verhaltensregeln, die für sie zutreffend gewesen wären, es war schlichtweg kein Platz für sie vorgesehen, keine etablierte Rolle. Dies konnte ihr Leben einerseits recht einsam machen, und oft war es das auch. Doch der Mangel an vorgegebenen Konventionen verschaffte ihr auch den Freiraum, eigene Regeln aufzustellen – in gewissen Grenzen, versteht sich –, und mittlerweile war sie sehr versiert darin, die Grenzen dieser Regeln stetig ein wenig zu erweitern.
    â€žDenny hat recht, Pete. Du verschwendest nur deine Zeit.“ Mary Agnes warf Nell einen hämischen Blick zu. „Ihre Hoheit hat es längst auf was Besseres abgesehen als dich. Weißt du eigentlich schon, mit wem sie sich nachmittags immer im Public Garden trifft?“
    Noch während Nell überlegte, was sie darauf erwidern sollte – ob sie überhaupt darauf eingehen sollte –, kam Peter ihr auch schon zu Hilfe. „Du solltest nicht auf so dummes Gerede hören, Mary Agnes – ihr beide nicht, egal, ob es nun um Nell oder um Mrs. Kimball oder ganz jemand anders geht.“
    â€žInsbesondere Mrs. Kimball“, sagte Nell. „Die arme Dame wurde ermordet, Himmel noch mal, und euch fällt nichts Besseres ein, als über sie herzuziehen! Dem Tod eines jeden Menschen sollte mit Respekt begegnet werden, wenn nicht gar mit Trauer. Wenigstens das hat ein jeder von uns verdient.“
    â€žScheint der gute Brady wohl auch zu finden“, bemerkte Dennis feixend.
    â€žWas soll denn das nun wieder heißen?“, wollte Nell aufgebracht wissen. Brady, der Kutscher der Hewitts, war ihr während ihrer fünf Jahre, die sie nun schon bei der Familie lebte, zu einem guten väterlichen Freund geworden. Auf ihn ließ sie nichts kommen.
    Grinsend stopfte sich Dennis die Hälfte seines Scones in den Mund. „Er war vorhin auch hier, als ich gefrühstückt hab – mein frühes Frühstück, mein ich. Na, und da wollt’ ich ein wenig mit ihm plaudern, aber er will nur in Ruhe seine Zeitung lesen, aber so isser er nun mal, unser Brady. Und plötzlich …! Da fällt ihm auf einmal so richtig die Kinnlade runter.“ Zum besseren Verständnis stieß Dennis einen erstickten Schrei aus und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. „Ich wollt’ wissen, was denn los wär, aber er kriegt das gar nicht mit. Liest einfach weiter. Und als er dann fertig war, also ich könnt’ schwören, dass er Tränen in den Augen hatte! Ein erwachsener Mann, so alt wie mein Pa, vielleicht sogar noch älter, und heult wie’n Mädchen.“ Dennis schüttelte den Kopf. „Wer hätte gedacht, dass er so eine Memme ist?“
    â€žWo ist er jetzt?“, fragte Nell.
    â€žWo soll er schon sein? Er ist dann gleich weg und hat gesagt, er muss jetzt den Brougham waschen“, meinte Dennis achselzuckend.
    Sichtlich besorgt sah Nell von Dennis zu Gracie, die noch immer emsig rührte, und wandte sich dann bittend an Peter. „Peter, könnten Sie vielleicht kurz ein Auge auf Gracie haben, während ich …“
    â€žKlar. Geh’n Sie schon“, unterbrach Peter und scheuchte sie mit knapper Geste vom Tisch und zur Hintertür hinaus.

2. KAPITEL
    Nell trat in den Hinterhof hinaus, der in den blutroten Schein der aufgehenden Sonne getaucht lag. Es war ein kleiner Hof, unverhältnismäßig klein fast, wenn man Größe und Pracht des „Palazzo Hewitt“ bedachte, wie Will das mit Blick auf den Boston Common gelegene Stadthaus seiner Ähnlichkeit mit den italienischen Palazzi der Renaissance wegen gern nannte. Viola hatte auf der winzigen Fläche einen bezaubernd verwilderten Garten im englischen Stil angelegt, der seitlich von efeubewachsenen Gattern und hinten von einem weitläufigen Gebäude mit rot geziegeltem Dach begrenzt war, das wie eine toskanische Villa aussah und als Kutschenhaus diente,

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