Blutrot wie die Wahrheit
oder besser gesagt als Kutschenhaus samt Stallungen. Die eine Hälfte des Erdgeschosses war in Pferdeboxen unterteilt, in der anderen war der Hewittsche Fuhrpark untergebracht und im oberen Geschoss die Unterkünfte der männlichen Dienerschaft.
Vor dem groÃen, mit schweren Eisenstreben beschlagenen Flügeltor zögerte Nell, denn es war verschlossen, und eigentlich schloss Brady nie das Tor, während er im Kutschenhaus arbeitete, schon gar nicht an einem so herrlich milden Sommermorgen. Sie klopfte und wartete, und als sich drinnen noch immer nichts rührte, klopfte sie noch einmal. âBrady?â
Ganz am Anfang, als sie gerade für die Hewitts zu arbeiten begann, hatte Nell den liebenswerten und ihr wohlgesonnenen Iren einmal als âMr. Bradyâ angeredet. Daraufhin hatte er gelacht und gesagt: âEinfach nur Brady, Miss â der gute alte Brady.â Sie wusste bis heute nicht, ob es sein Vorname oder sein Nachname war, und obwohl sie bald Freunde geworden waren, bestand er noch immer darauf, Nell wegen ihrer gehobenen Stellung im Haushalt der Hewitts als âMiss Sweeneyâ anzureden.
Mit einem schweren Knarzen zog sie das Tor einen Spalt weit auf und trat in das lang gestreckte hohe Gemäuer des Kutschenhauses. Drinnen war es kühl und dämmrig, denn die wenigen Fenster, die es gab, waren winzig. AuÃer dem leisen Rascheln ihrer Röcke war kein Laut zu hören. Nach ein paar Schritten vernahm sie dann aber doch aus dem Bogengang, der sich zu ihrer Rechten auftat und in die Stallungen führte, gedämpftes Wiehern. Es roch nach Pferden und Heu. Links standen in doppelter Reihe die im Dämmerlicht nur schemenhaft auszumachenden Kutschen. Ganz hinten sah Nell einen hell strahlenden Lichtschein. Sie blinzelte kurz und war geblendet, erkannte dann jedoch, dass es eine Laterne war, die von einem der Deckenbalken hing.
Während sie dem Licht entgegenging, kam sie an Mr. Hewitts einsitzigem Coupé vorbei, an Violas eleganter Victoria-Kutsche, Martins Buggy, dem kleinen Ponywagen, den Gracie letztes Jahr von Viola zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, einem viersitzigen Schlitten für winterliche Ausfahrten, zwei unscheinbaren Gigs, dem Pferdekarren der Dienstboten, und schlieÃlich gelangte sie zum Prunkstück der Sammlung, dem groÃen Brougham.
Die stattliche Familienkutsche war von glänzenden Wassertropfen bedeckt und schimmerte wie schwarzes Glas, nur der lederne Kutschbock war mit einem Ãltuch bedeckt, damit er nicht nass wurde. Wasser tropfte und strömte von der Karosserie und den hohen Rädern und sickerte in das festgestampfte Erdreich; ein Eimer, über dessen Rand ein Putzlappen hing, stand auf einer Bank in der Ecke. Brady, in Hemdsärmeln und mit einer mittlerweile völlig durchnässten Schürze, stand mit dem Rücken zu Nell und rieb mit einem Ledertuch über den Wagen, um ihn wieder auf Hochglanz zu bringen.
Nell wollte gerade erneut seinen Namen sagen, als er innehielt und sich mit dem Ãrmel über die Augen fuhr. Ohne sich umzudrehen, sagte er mit breitem irischem Akzent und mürrischer Stimme: âGehân Sie schon, Miss. Alles in Ordnung.â
âKannten Sie sie denn?â, fragte Nell leise.
Er stieà einen abgrundtiefen Seufzer aus. âSie war meine Nichte.â
Etwas verdutzt fragte Nell nach: âVirginia Kimball war Ihre Nichte?â Doch dann begriff sie. âAh ⦠Sie meinen das Dienstmädchen?â
âFee Gannon. Eigentlich Fiona, aber wir haben sie immer Fee genannt. Die Tochter meiner kleinen Schwester.â Er schniefte, straffte die Schultern und polierte weiter.
âOh, Brady ⦠das tut mir leid.â Sie trat zu ihm und lieà ihre Hand auf seinem breiten Rücken ruhen.
Unbeirrt rieb er das Ledertuch über den Brougham, sorgsam darauf bedacht, auch noch die letzten Streifen und Wasserflecken von der schwarz glänzenden Oberfläche zu tilgen.
Dass man ihr in den Kopf geschossen hatte , war schon schlimm genug, dachte Nell. Aber man sollte Miss Gannon mit einigen der berühmten Halsketten ihrer verschiedenen Dienstherrin in Händen aufgefunden haben â¦
âBrady â¦â, begann sie vorsichtig.
âSie warâs nicht.â Er sah kurz über die Schulter und begegnete Nells Blick. Seine sonst so freundliche Miene war einem so verweinten und leidvollen Ausdruck gewichen, dass sich ihr das Herz in der Brust
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