Blutrot wie die Wahrheit
zusammenzog. âSie ist ein gutes Mädchen.â Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. âWar ein gutes Mädchen. Sie würde niemals ⦠So was könnte sie gar nicht â¦â Mit der Faust hieb er gegen das Wagenfenster, brummte etwas VerdrieÃliches vor sich hin und polierte dann mit dem quietschenden Leder über das Glas, um den Abdruck seiner Hand wieder vom Glas zu wischen. âDas stimmt nicht, was da so geschrieben wird. Es stimmt einfach nicht! Die kannten sie ja nicht mal. Nicht so, wie ich sie kannte. Die haâm doch gar keine Ahnung!â
âIch weiÃ.â
âNein, tun Sie nicht!â, fuhr Brady sie an. Es war das erste Mal, dass er ihr gegenüber so die Stimme erhob, und es traf sie sehr, beunruhigte sie zutiefst und lieà sie sich ganz verloren fühlen. âSie können es gar nicht wissen, weil Sie sie nämlich auch nicht kannten.â Sein Kinn erzitterte, und wieder traten ihm Tränen in die Augen. âSie wissen ja nicht â¦â Die Worte gingen in einem erstickten Schluchzen unter. Er sank gegen den Brougham, das Polierleder flatterte zu Boden; schützend hielt er sich seine groÃen abgearbeiteten Hände vors Gesicht.
Nell nahm ihn tröstend in den Arm, führte ihn zu der Bank in der Ecke und stellte den Eimer mit dem Putzlappen auf den Boden. âSetzen Sie sich. Setzen Sie sich, Brady.â
Mittlerweile weinte er wirklich und stieà dabei leise Verwünschungen aus, die Nell nicht verstehen konnte. Sie reichte ihm ihr Taschentuch. Er nahm es und verbarg sein Gesicht dahinter, beugte sich vornüber und brach in lautes, heiseres Schluchzen aus, derweil sie ihm den Rücken tätschelte und tröstende Laute murmelte.
Die Minuten vergingen, und bis Brady sich wieder gefasst hatte, war es im Kutschenhaus schon ein wenig heller geworden. Durch die Ostfenster schien die Sonne herein und lieà die Wassertropfen auf dem Brougham verdunsten.
âDen kann ich jetzt grad noch mal waschenâ, stellte Brady mit zitternder und tränenschwerer Stimme fest, als er sich mit Nells Taschentuch die Nase putzte. âGanz fleckig und streifig wird er sein, wo ich noch nicht poliert habâ.â
âDas kann warten.â Nell schloss ihren Arm fester um den Mann, der ihr während der letzten fünf Jahre so oft Trost und rettender Fels in der Brandung gewesen war. âGeht es wieder?â
Brady seufzte tief, die Ellenbogen schwer auf die Knie gestützt. âSie war meine einzige Verwandte. Also hier drüben, meine ich. Die andern sind ja alle noch in der alten Heimat.â Er knüllte das feuchte Taschentuch zusammen, wischte sich damit die Augen, strich es dann sorgsam wieder glatt und runzelte die Stirn, als er das kunstvoll gestickte Monogramm in der Ecke entdeckte. âOh je, schauân Sie nur, was ich mit Ihrem schönen Taschentuch gemacht habe. Ich weià noch genau, wann Mrs. Hewitt es Ihnen geschenkt hat.â
âDas macht nichts.â
âIch lass es waschenâ, versprach er und legte es ordentlich zusammen.
âUm mein Taschentuch sorge ich mich wirklich nicht, Bradyâ, versicherte ihm Nell. âIch mache mir vielmehr Sorgen um Sie. Ich fühle mich so â¦â Hilflos. Beunruhigt. Er war tatsächlich wie ein Vater für sie â gewiss mehr, als ihr leiblicher Vater es ihr jemals gewesen war. Brady war immer da, wenn sie ihn brauchte â aufmunternd, unerschütterlich, zuverlässig. Jeden Sonntag fuhr er sie früh im Morgengrauen ins North End, damit sie die Frühmesse in St. Stephen besuchen konnte. Meist nahmen sie dabei eine der kleinen Gigs, damit sie vorn beieinander sitzen und sich unterhalten konnten. Er gab ihr allerlei gute Ratschläge oder erzählte ihr lustige Begebenheiten ⦠Manchmal sang er ihr sogar etwas vor â Kirchenlieder oder Trinklieder, je nach Laune. Ihn nun so völlig aufgelöst zu sehen ⦠Ihr war, als verlöre sie selbst jäh allen Halt.
âIch kann mich erinnern, dass Sie mal von ihr gesprochen habenâ, sagte Nell. Brady redete nur wenig von sich, aber von Fee hatte er mit groÃer Begeisterung erzählt. Als sie mit gerade einmal fünfzehn Jahren zur Waise geworden war, hatte er ihr eine Stelle als Dienstmädchen beschafft.
âAber ich dachte, Sie würde noch für die Pratts arbeitenâ, meinte Nell. Orville Pratt, einer der reichsten und mächtigsten
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