Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
sich festhalten bei der rasenden Geschwindigkeit?
Franz erklärt jetzt ausführlich. Bereits lange vor Abfahrt, wenn der Zug noch auf dem Abstellgleis steht, muß der Blinde unter einen Wagen kriechen und sich auf die Achsen hocken. Hier, einen knappen halben Meter vom Erdboden entfernt, muß ausgehalten werden. Einschlafen bedeutet sicheren Tod. Aber auch faustgroße Schottersteine, die von dem dahinrasenden Zug hochgeschleudert werden, können töten. Oder wenn die Arme und Beine vor Kälte und wegen Mangel an Bewegung erstarren und den Körper nicht mehr auf der Achse halten können … Rosig sind die Farben nicht, mit denen Franz das Wagnis schildert. Er selbst gibt zu, sich nur im äußersten Notfall dieses Mittels zu bedienen. Seine grauenhafteste Fahrt unter einem D-Zug sei die Fahrt von Warschau nach Berlin gewesen. Von Warschau nach Berlin unter dem D-Zug! „Für Schlappschwänze ist es bestimmt ungefährlicher, auf einen Güterzug zu jumpen“, schließt Franz. „Ich riskier es“, entschließt sich Willi. Es klingt nicht besonders heroisch, aber es ist ein Entschluß, und Willi wird ihn durchführen. Franz erklärt sich bereit, Willi im fremden Köln unter den richtigen Zug zu bringen,auch bei der Ausrüstung für das Unternehmen will er behilflich sein. Franz setzt die Unterhaltung nicht fort, und Willis Gedanken sind zu sehr mit dem bevorstehenden Wagnis beschäftigt. Der Zug macht sein eintöniges Rattatata … rattatata … rattatata …
Als sie aus einem leichten Schlaf erwachen, dringt durch die Spalten der Schutzdecke schon Tageslicht. Franz quetscht sich durch, um sich zu orientieren. „Wird Zeit, Junge. Sowie der Zug langsamer fährt, müssen wir abspringen. — Wie ist es denn mit der Fahrt Köln—Berlin?“ kommt Franz auf ihre Unterhaltung zurück. „Bleibt dabei“, antwortet Willi. Der Zug pfeift und verlangsamt sein Tempo. Noch ist von Köln nichts zu sehen, sie fahren augenblicklich durch ein Wäldchen. Franz gibt Willi Instruktionen, wie er vom Zug abzuspringen hat. Sowie er gesprungen ist, niederwerfen, damit die Bremser sie nicht bemerken. Noch langsamer fährt der Zug. Franz jumpt zuerst und wirft sich gleich nieder. Hinterdrein Willi. Aber er braucht sich nicht erst niederzuwerfen. Das besorgt der Schwung, ziemlich unsanft. Sie wandern querfeldein und kommen bald auf eine Chaussee. Nach einer guten Stunde erreichen sie eine Vorortslinie der Kölner Straßenbahn und bald sind sie in Köln.
Willi hat weder für Köln noch für den Rhein besonderes Interesse. Er will nach Berlin. Franz aber schwelgt in Heimat. Obwohl Franz weiß, daß Willi kaum noch fünfzig Pfennig besitzt, nimmt er ihn mit in seine alte Herberge. Kameradschaft ist dem Vagabunden selbstverständliche Pflicht. In der Herberge erhalten sie eine Koje mit zwei Feldbetten angewiesen,und in der Gaststube erwartet sie eine Riesenschüssel Bohnensuppe mit Schweinefleisch. Willi macht wieder Einwände. „Freß“, entgegnet Franz und teilt das Fleisch ein. Als sie gesättigt sind, kommt Franz wieder auf Willis Reise zu sprechen. „Erst mußt du dich ausruhen. Sonst fliegst du nach der ersten Stunde unter die Räder.“ Auf Franzens Rat entschließt Willi sich, erst morgen abend zu fahren. Dann gehen sie in ihre Schlafkoje, um den versäumten Schlaf nachzuholen.
Willi schläft, ohne auch nur aufzuwachen, bis zum Mittag des anderen Tages. Abends will er die Fahrt antreten. Nach dem Essen gehen sie wieder in ihre Koje, um die Vorbereitungen für die Fahrt zu treffen. In knapp fünf Stunden muß er auf der Achse liegen. Franz hat eine alte, dünne Wolldecke besorgt, die er zerschneidet. Willi steht diesen Vorbereitungen kopfschüttelnd gegenüber. Was schneidet der Franz denn da für ellenlange Wickelgamaschen? Und dieser Beutel, den er da näht? Franz stülpt Willi den Beutel über den Kopf und merkt sich, wo hinter dem Stoff die Augen liegen. Zieht den Beutel wieder herunter und schneidet zwei Augenlöcher hinein. Unten werden zwei Bänder angenäht. Endlich erklärt Franz: „Diesen Beutel ziehst du während der Fahrt über den Kopf. Erstens wärmt er. Zweitens, wenn du ihn nicht hättest, kämst du in Berlin mit einer zentimeterdicken Öl- und Schmutzschicht im Gesicht an, und das würde dich verraten.“ Den Zweck eines Paares dicker Fausthandschuhe sieht Willi ein. Aber die vielen Stoffstreifen? Franz erklärt weiter, daß, genau wie das Gesicht, die Kleidung total beschmutzt wird. Deshalb Windjackeverkehrt herum
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