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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Haffner
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glimmendes Fünkchen, das sich bewegt und hell aufglüht. Ein rauchender Eisenbahner? Oder gleich Willi ein Blinder ? Schnell befestigt er die Decke und quetscht sich wieder zwischen die Ballen. Da ist es noch am wärmsten. Eine Zigarette hat er noch und zwei zerdrückte Stullen. Aber nichts zu trinken. Vorläufig raucht er erst einmal vorsichtig die Zigarette. Nur nicht der Holzwolle damit zu nahe kommen. Wohin mag der Zug nur fahren? Die vorüberhuschende Gegend sagte ihm gar nichts. Und wie lange fährt er schon? Vorn pfeift die Lokomotive, nochmal und nochmal. Dann quietschen auch schon die Bremsen. Keine Einfahrt. Willi windet sich wieder hindurch, um vielleicht den Namen einer Station zu erhaschen. Der Zug hält auf freier Strecke.
    Vorsichtig lugt Willi durch einen fingerbreiten Spalt nach dem Bremserhäuschen hinüber. Dessen Tür öffnet sich, ein unbedeckter Kopf, der nach allen Seiten Ausschau hält, wird sichtbar. Vom Bahnpersonal ist nichts zu sehen. Da, der Mann klettert aus dem Häuschen, hält unten wieder lange Ausschau und schlägt sich dann die Arme um die Rippen, um sich zu erwärmen. Willi bohrt seine Augen in die Finsternis, um die Gestalt zu erkennen. Langsam, langsam unterscheidet er ein vollbärtiges Gesicht, ein Jackett und eine Sporthose mit Wickelgamaschen. Nichts von Eisenbahneruniform. Soll er den Mann anrufen? Vielleicht kann der ihm sagen, wo sie sind. Kurz entschlossen lüftet Willi die Schutzdecke weiter und ruft leise: „Kam’rad … Kam’rad, hier!“ Die Gestalt fährt zusammen, setzt zum Sprung an. Nochmals ruft Willi und streckt seinen Oberkörper vor. Die Spannung in der Gestalt des Menschen läßt nach, er kommt näher an die Lore. Willi zieht die Schutzdecke einladend zurück und mit einem gelenkigen Satz ist der Fremde oben. Als die Decke wieder befestigt ist, holt der Vollbärtige eine Taschenlampe hervor und leuchtet Willi an. Das Resultat scheint ihn zu befriedigen. „Auf der Walze?“ fragt er. „Nein, ich will nach Berlin“, gibt Willi Auskunft. Der Fremde lacht kurz auf: „Nach Berlin? Wenn es hell ist, sind wir in Köln!“
    Die Nachricht ist für Willi ein Schlag ins Gesicht. Köln? Was soll er in Köln, wo er keine Seele kennt? Er war also in entgegengesetzter Richtung gefahren. Soll er jetzt, solange der Zug hält, abspringen? Nein, das ist sinnlos. „Mußt du denn unbedingt nach Berlin?“ fragt der Fremde. „Ja, nur in Berlin hab’ icheinen Kameraden, der mir helfen würde“, erwidert Willi. „Es gäbe schon einen Weg, um schnell und ohne Geld nach Berlin zu kommen. Aber verdammt gefährlich, mein Lieber. Ist schon mancher auf die Schienen gefallen und zu Hackepeter zermanscht worden“, erzählt der fremde Stromer. Willi fragt. Erklärt sich zu allem bereit. Hier, im Rheinland kann er nur vor Hunger krepieren oder sich der Polizei stellen. In Berlin kennt er sich aus. Da ist alles halb so schlimm. Er muß schnell, sehr schnell nach Berlin kommen. Mit einem Güterzug kann es eine Woche und noch länger dauern. Der Fremde leuchtet Willi wieder ins Gesicht. „Augenblick mal, will nur meinen Rucksack aus dem Bremserhaus holen.“
    Eben ist er zurück, da pfeift die Lokomotive. Der Zug ruckt an. Mit vereinter Kraft rücken Willi und der Fremde die verkanteten Ballen zurecht, um mehr Platz zu haben. Der Fremde stellt sich als Franz vor. Trotz seines Vollbartes erst dreißig Jahre alt. Franz, Stromer aus Passion, gelüstet es wieder einmal nach Köln, seiner Heimat. Möglich, daß Franz auch in der nächsten Woche nach Berlin kommen wird. Wie kann er das heute schon wissen! Willi erzählt freimütig, daß er aus der Fürsorge geflüchtet ist. Franz hat im Dunkeln irgendeine Beschäftigung. Als die Taschenlampe kurz aufleuchtet, sieht Willi in Franzens Mütze einen Haufen soeben, im Stockdunkeln gedrehter Zigaretten. Verflucht, ist der geschickt! Und dann, als beide rauchen, rückt Franz mit seinem Plan heraus, wie Willi schnell nach Berlin kommen kann. Erst macht er eine kleine Kunstpause, dann sagt er lakonisch: „Mit ’nD-Zug …“ „Arschloch!“ entfährt es Willi enttäuscht. „Nee, nee, mein Junge, mit ’n D-Zug!“ beharrt Franz. „Aber die Kontrolle, Mensch!“ trumpft Willi auf. „Da kommt kein Kontrolleur hin“, lacht Franz behaglich, „der ist nur im Zug. Du aber bist unter dem Zug!“ Willi ist starr. Unter dem D-Zug, bei neunzig Kilometer Geschwindigkeit? Ausgeschlossen! Wo soll man da überhaupt bleiben, unter dem Wagen? Wo soll man

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