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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Haffner
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zurecht. Morgen früh bist du in Berlin, Willi. Was anderes gibt es nicht. Sanft kommt der Zug ins Rollen. Langsam gleitet eraus der Bahnhofshalle. Jetzt kommen Weichen, viele Weichen. Da gibt es jedesmal einen Stoß. Auch jetzt fährt der Zug noch langsam, aber Willi merkt, daß er, sowie er die Vorstädte hinter sich hat, losrasen wird. Unter vielerlei Verrenkungen hat Willi es fertig bekommen, sich eine Zigarette anzuzünden. Eine halbe Schachtel Zündhölzer kostete es, ehe die Zigarette unter dem Schutze der aufgeknöpften Windjacke brannte. Nu man los! Ja, nun geht es los! Die glitzernden Speichen der Räder flirren …, dann ist von Speichen nichts mehr zu erkennen, nur rasend sich drehende Scheiben. Au! Ein kleiner Stein war hochgeschleudert worden. Nun wird es Zeit, sich Franzens Beutel über den Kopf zu ziehen.
    Der Zug hat jetzt freie Bahn und saust glatt dahin. Willi spürt nur ganz geringe Erschütterungen, die eher ein gleichmäßiges Wiegen sind. Hände in den schaukelnden Halteriemen, die Beine fest an das Gestänge geschmiegt. Allmählich spürt Willi die immer schneidender werdende Kälte, den messerscharf vorbeipfeifenden Wind. Durch die Augenlöcher des Kopfschutzes dringt dichter Staub. Herum mit dem Beutel, so daß die Augenlöcher hinten sind. Jetzt ist Willi blind. Wozu auch sehen? Wie er sich festzuhalten hat, sagt ihm das Gefühl. Weiter kann er doch nichts tun. Still dahocken und warten, warten, warten. Sich immer wieder sagen, morgen früh biste in Berlin. Sich immer etwas sagen, irgendwas. Zählen von eins bis zehntausend. Oder ein Gedicht aufsagen. Nur nicht eindösen, sonst kann es in der nächsten Minute aus sein. Ein gar nicht so großes Neigen des Körpers nach links oder rechts: aus!
    Der eisige Wind bohrt sich tiefer und tiefer in die Kleidung, beißt sich unter die um den Körper gewickelten Stoffstreifen. Der regungslos hockende Körper verliert seine Geschmeidigkeit, erstarrt, wird gefühllos. Willi fühlt nicht mehr, daß seine Hände sich in die Riemen krampfen, er kann die Finger nicht mehr bewegen. Er fühlt überhaupt nicht mehr, daß er auf der Achse hockt. Er spürt nur, daß sein Körper mit ungeheurer Geschwindigkeit fortgeschleudert wird, als sei er aus einer Rakete abgeschossen. Manchmal fühlt er wohl einen dumpf schmerzenden Anprall, wenn ein Stein ihn getroffen hat, aber es ist kein richtiger Schmerz. Er ist förmlich losgelöst von seinem physischen Ich, von Zeit und Raum. Wie lange fährt er denn schon? Ist es eine Stunde, sind es vier Stunden?
    An dem Pfeifen des Windes hört er, daß der Zug sein Tempo verlangsamt. Er hebt den Kopfschutz etwas an: Licht und Schatten huschen vorbei, dann poltert der Zug über Weichen. Der Zug fährt in eine große Station ein. Die wenigen Aufenthaltsminuten benutzt Willi, seinen Gliedern auf engstem Raum möglichst viel Bewegung zu verschaffen. Auch seine Lage verändert er. Durch Anlehnen an einen Kasten unter dem Wagen verschafft er sich eine Art Sitzstellung, die ihm erlaubt, auch während der Fahrt seine Glieder etwas in Bewegung zu halten. Er lugt durch den schmalen Spalt zwischen Wagen und Bahnsteig. Nirgends ein Ortsname, ausgerufen wird er auch nicht. Nirgends in seinem beschränkten Blickfeld eine Uhr. Nur Beine sieht er, Beine, die ihm weder das eine noch das andere sagen. „Einsteigen! …“ Der Zug gleitethinaus und frißt sich schnell und nimmersatt wieder in rasendes Tempo hinein.
    Aber wenn du glaubst, Willi Kludas, schlimmer kann es nicht werden … Wenn du glaubst, man betrügt die Reichsbahn so leicht um das Fahrgeld Köln—Berlin …, dann irrst du! Warum fielest du über deine dir wohlwollenden Erzieher her und entzogst dich dann auch noch der gerechten Strafe? Strafe! Hörst du das Echo des Wortes? Ja, Strafe! Sie trifft dich hier, unter einem dahinfliegenden D-Zug. Hier! Wo du dich, erstarrt zu einem gefühllosen Klumpen, an das noch kältere Eisen klammerst! Nun endlich ist der Widerstand deines Dickschädels gebrochen. Schreie, heule in das Getöse. Die, die einen Meter über dir auf weichen Polstern sitzen, hören es nicht. Dein Freiheitsdrang, dein Sehnen, einmal ein Mädel im Hausflur abzuknutschen, durch die lichterglitzernden Straßen zu gehen als freier Mensch, kein Zögling mehr zu sein, dem man beliebig Ohrfeigen verabfolgen kann. Alle diese Gelüste, die eine fürsorgende Erziehung von dir fernhielt, um einen Menschen nach ihrem Geschmack aus dir zu machen, mußt du jetzt mit einer Nacht

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