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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Haffner
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anziehen, ebenso die Hose. In Berlin dreht man die saubere und rechte Seite wieder nach außen und fällt nicht gleich auf.
    Mit den Stoffstreifen werden unter der Oberkleidung Beine, Schenkel und auch der Oberkörper umwickelt. Wegen der Kälte, mein Junge! Kälte mal neunzig Kilometer Geschwindigkeit! Mit dem dünnen Unterzeug bist du im Nu steif wie ein Brett, hast kein Gefühl mehr in den Gliedern, und die Räder des Zuges zermanschen dich. Gehorsam zieht Willi die Oberkleidung aus und läßt sich mit den Stoffstreifen umwickeln. Nicht zu fest, damit das Blut zirkulieren kann, nicht zu lose, damit die Bandage nicht verrutscht. Hose verkehrt wieder angezogen, Weste und Jackett drüber und verkehrt herum die Windjacke. Prall sitzt sie über dem Jackett. Kurz bevor sie losziehen nach dem Abstellbahnhof muß Willi einige Schnäpse verdrücken. Die sollen Mut und Blut in Bewegung halten.
    Nur mit genauester Ortskenntnis ist es möglich, ungesehen an den bereits zusammengestellten Zug, der bald die Fahrt Köln—Berlin antreten soll, heranzukommen. Solange sie noch nicht auf dem Bahnkörper sind, deckt sie das winterabendliche Dunkel. Aber dann heißt es kriechen, rutschen, springen, jeden Zentimeter Schatten ausnutzen. Gott sei Dank, das war geschafft. Sie kriechen die Wagenreihe ab. Nicht zu weit nach hinten, da schleudert es zu sehr. Aber auch nicht zu weit nach vorn, sonst kann es passieren, daß glühender Aschenregen der Lokomotive sich auf das wehrloseMenschenbündel unter dem Wagen ergießt. Hier. Franz hält vor einem Wagen zweiter Klasse. Immer nobel, muß Willi denken. Sie kriechen dicht heran und Franz macht es vor, wie man sich auf die breite Achse zu hocken hat. Dann holt er zwei kurze Riemen aus der Tasche, befestigt sie an irgendwelchem Gestänge unter dem Wagen. So hat Willi zwei Handgriffe zum Festhalten. Wieder macht Franz vor und Willi nach. Jetzt, wo der Zug steht, sieht alles kinderleicht aus. Und in Berlin, belehrt Franz weiter, möglichst schon in einem Vorort flitzen, wenn der Zug keine Einfahrt hat. Auf keinen Fall auf dem Bahnhof türmen, das ist zu gefährlich. Sonst lieber warten, bis der Zug die Reisenden entladen hat und abgestellt wird. „Und nun, toi, toi, toi, Hals- und Beinbruch, mein Junge!“ Willi hockt sich zurecht und gibt dem Kumpel fest die Hand. Lautlos verschwindet Franz.
    Lange ereignet sich nichts, das auf baldige Abfahrt des Zuges schließen lassen könnte. Dann aber rast eine riesenhafte Schnellzugslokomotive vorbei und rangiert sich vor den Zug. Willi merkt es an dem Stoß, der sich in der Wagenreihe fortpflanzt. Bald gehen auch Menschen vorbei, das Zugpersonal. Und dann setzt sich der Zug langsam mit gedrosselten Kräften in Bewegung. Der Bahnhof ist nahe. Am Rufen und Hasten merkt Willi Kludas, daß sie bereits in der Bahnhofshalle sind. Sehen kann er nur, wenn er seinen Kopf auf die Achse legt und schräg nach oben blickt. Vorbeilaufende Füße, Füße und Beine, die in seinen Wagen einsteigen.
    Ein kurzes, metallisches Hämmern kommt näher. Willidrückt sich an das entgegengesetzte Achsenende. Der Zugbegleiter klopft die Räder ab, um am Klang eventuelle Schäden, die bei der hohen Geschwindigkeit zu einer Katastrophe ausarten könnten, festzustellen. Plötzlich kommt so etwas wie ein leiser Wunsch in Willi auf. Wenn sie dich jetzt schnappen, liegst du in einer Stunde auf irgendeiner Gefängnispritsche. Nicht gerade verlockend, aber … in einer Stunde kannst du auch schon, wenn sie dich hier nicht kriegen, ein zerfetzter Fleischklumpen sein. Ein eisiger Schauer durchfliegt ihn. Er muß seine zitternden Hände fest an das kalte Eisen pressen, um die Angst zu bändigen. Einen Meter von ihm entfernt unterhält man sich sorglos, trägt Grüße an Onkel und Tante auf. Eine warme, weiche Frauenstimme fleht ihren „Schatz“ an, sich um Gottes Willen nicht der Zugluft eines offenen Abteilfensters auszusetzen. Willi sieht einen Damenschuh, den schlanken Ansatz eines Frauenbeines. Junge, Junge, wenn die wüßte, daß ihr ein Kerl beinahe unter die Röcke sehen kann … Da muß er lachen, und das Angstgefühl ist weg. Er glaubt sich beinahe ein wenig ungeduldig. Nu haut man bald ab hier, damit wir auf Touren kommen! Wird ja langweilig hier.
    „Einsteigen! … Einsteigen, bitte! …“ Das Zugpersonal hastet von Wagen zu Wagen und schließt die Türen. Die Seidenbeine stellen sich auf die Zehenspitzen, um einen Abschiedskuß entgegenzunehmen. Willi hockt sich endgültig

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