Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
Wo unterkriechen für die Nacht? Frage, die Frage bleibt. Lange herumlaufen kann er nicht, das fühlt er. Nichts sieht er von der geschäftigen Hast der Müllerstraße, er stolpert vorwärts. Unbeachtet bleibt der Glanz der nördlichen Friedrichstraße. Willi schwenkt ab und wandert die Spree entlang. Es ist schon einhalb zehn Uhr. Soll er in den Tiergarten gehen? Er fühlt die Kälte schon im voraus. Aber laufen kann er, kann er nicht weiter.
Am Kronprinzenufer steht die Sandkiste B. A. T. G. 2. Halbgefüllt ist sie. Willi klettert hinein und schließt den schweren Deckel über sich. Die letzte Zigarette raucht er,dann wühlt er sich in den feuchten Sand. Die große Stadt Berlin hat Willi Kludas ein erbärmliches Bett bereitet … — —
Ulli, Bulle einer mit den Blutsbrüdern befreundeten Clique, hat Geburtstag. Er ist mündig geworden, einundzwanzig Jahre. Das bedeutet für ihn, daß Fürsorge und Jugendamt alle Schrecken verloren haben. Also ein großes, langersehntes Ereignis, würdig einer gewaltigen Fete. Die soll steigen heute nacht. Ulli hat alle Blutsbrüder feierlichst eingeladen. Ab elf Uhr sollen in Abständen von fünfzehn Minuten je drei Blutsbrüder Ecke Koloniestraße und Straße 80 f. Abt. X. 2. warten. Dort werden sie von einem Jungen abgeholt und in den Festsaal geführt. Immer nur drei Mann zur Zeit, damit die Polizei nicht aufmerksam wird. Die anderen Jungen sollen so lange in einem Hausflur der Koloniestraße warten, bis an sie die Reihe ist.
Jonny, Konrad und Erwin gehen zuerst. Schlag elf Uhr stehen sie an dem Laternenpfahl, der das Straßenschild Straße 80 f. Abt. X. 2. trägt. Allerdings: die zu einem Namensschild gehörige Straße gibt es nicht! Ein gläubiger Thomas säße nach vier Schritten in der von dem Schild angegebenen Richtung auf einem Stachelzaun, anstatt in eine Straße einzubiegen. Geheimnis des Stadtbauamtes Berlin, warum und zu welchem Zweck das Schild angebracht worden ist … Kein Mensch weit und breit. Häuser sind noch nicht in diese Gegend vorgedrungen. Braches Gelände, Zigeunerwagen; Lauben, kleine und große; verfaulte Planken und Zäune, die nur aus purer jahrzehntelanger Gewohnheit noch halbwegs aufrecht stehen. Hier ist Ullis und seiner Clique Heimat. Eine Gegend wie geschaffen zum laut- und spurlosen Verschwinden.
Da kommt Ullis Abgesandter. Man kennt sich. Irgendwo ergibt sich zwischen Draht- und Holzeinzäunung ein Loch. Die vier Burschen tappen hindurch und geraten in abgrundtiefen Modder. Im Gänsemarsch, der Führer voran, jeder des anderen Rockzipfel fassend, tastet sich die Gruppe durch die Finsternis. Füße patschen durch kleine Teiche, verfitzen sich in ausgeweidete Matratzen, stolpern über ausrangiertes Küchenemaille und Schutthaufen. Über den Weg, der nie ein Weg war, huscht etwas, das Katze, Kaninchen oder Ratte gewesen sein kann. Endlich halten sie vor einer dunklen Laube. Der Führer wispert durch das Schlüsselloch die Parole: „Kohldampf im Bauch, Brand in der Kehle.“ Dem Hunger und Durst wird aufgetan.
Der plötzliche Luftzug hat gewaltige Tabaksnebelmassen in quirlenden Aufruhr gebracht. Wie in der Waschküche wogt es durcheinander. Ulli, das Geburtstagskind, nimmt Glückwünsche und kleine Spenden entgegen und fordert zum Platznehmen auf. Langsam gewöhnen sich die neuen Gäste an den Tabaks-Mief. Jegliches Möbelstück ist Fehlanzeige. Es hätte auch gar keinen Platz. Auf dem rohen Bretterfußboden einige Decken und Kartoffelsäcke, auf ihnen sitzen, hocken und liegen die Geburtstagsgäste. An der Wand eine umgestülpte Apfelsinenkiste mit einer meterlangen brennenden Altarkerze. Daneben ein gutes Dutzend gefüllter Schnaps- und Weinflaschen. An der anderen Wand unter einem schalldämpfenden Pferdewoilach ein Grammophon. Der Führer geht, um die nächsten Blutsbrüder zu holen. Auch sie und dieletzten beiden Jungen landen glücklich, nachdem man noch einmal in engste Tuchfühlung gerückt ist, auf einem Kartoffelsack. „Wo bleibt denn der Ludwig?“ fragt Ulli. Jonny berichtet: „Verschwunden ist er, seit einer Woche. Keiner kann sich einen Vers machen …“ Daß Ludwigs Verschwinden kein freiwilliges ist, steht für alle fest. Die Polizei wird ihn wohl gekascht haben, folgert man.
Sechzehn Cliquenburschen sind in der Laube versammelt. Jemand legt eine Platte auf das Grammophon und deckt den Woilach wieder über den Apparat. „Hoch soll er leben!“ näselt es unter der Decke. Ovation für Ulli. Eine Flasche Weinbrand
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