Blutschwestern
brauchte er sie
nicht mehr.
Xiria trat auf ihn zu, langsam und mit anmutigen Schritten. Mador verzog seinen Mund zu einem falschen Lächeln. Ihre Ahnungslosigkeit
war beinahe anrührend. Sie beachtete die am Boden kauernde Lin nicht, als sie auf ihn zutrat, und Mador fühlte sein Blut heiß
durch die Adern pulsieren. Noch zwei Schritte, dann wäre sie in Reichweite, und er könnte den Dolch in ihren schönen Leib
stoßen.
Sie blieb stehen, und Mador schreckte überrascht vor dem geballten Sturm der Hassgefühle zurück, den sie ihm entgegensandte.
Wie hatte sie diesen Hass vor ihm verbergen können, warum hatte er ihn nicht gespürt? Er verfluchte sich selbst … er hatte
es ihr selbst beigebracht. Xiria hatte von ihm gelernt! Hastig zog er den Dolch aus seinem Gürtel, doch es war zu spät! Im
nächsten Augenblick war die Greifin bei ihm, und ihre Klauen gruben sich in sein Fleisch wie glühende Klingen. Mador spürte,
wie heißes Blut aus den Wunden schoss, die sie ihm schlug. Er versuchte sie verzweifelt mit den Armen abzuwehren; doch sie
war stärker, zorniger und gieriger als er.
»Degan gehört Xiria« waren die letzten Worte, die er vernahm, bevor sie seinen Leib aufriss und er einen letzten verwunderten
Blick auf seine Gedärme werfen konnte.
|419| Liebestod
Degan öffnete die Augen und schmeckte Blut auf seiner Lippe. Langsam klärte sich sein verschwommener Blick, und er erinnerte
sich an den Schlag, den Xiria ihm versetzt hatte. Seine Augen suchten Lin. Erleichtert atmete Degan auf, als er sie noch immer
zitternd, jedoch unverletzt am Boden hocken sah. Als er Xiria entdeckte, musste er sich beherrschen, nicht zu würgen. Seine
Gefährtin war vollkommen mit Blut besudelt, ihr schönes silbernes Haar, ihre Schwingen, ihr Körper, ihre Hände … ja, sogar
ihr Gesicht. Neben ihr lag der leblose Körper Madors, zugerichtet, als wäre ein Raubtier über ihn hergefallen.
»Xiria, was hast du getan?«, fragte er mit belegter Stimme.
Als sie sah, dass er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, kam sie zu ihm und ging in die Hocke. Sie war so nah bei ihm,
dass der Geruch des Blutes an ihrem Leib äußerste Beherrschung von Degan erforderte. Sein Magen rebellierte gegen sein natürliches
Bedürfnis, sich zu übergeben. Sie schien es nicht zu bemerken, stattdessen wurde ihr Gesicht weich und liebevoll, als sie
ihn anblickte.
»Xiria hat nachgedacht! Degan hat gesagt, er weiß nicht, ob er ein Greif oder ein Mensch ist. Xiria wird ihm helfen. Wenn
Lin und seine Sippe erst tot sind, muss Degan keine schlechten Gefühle mehr haben.« Sie strahlte über das ganze Gesicht ob
ihrer Erkenntnis.
Degan musste sich beherrschen, nicht zu schreien. Glaubte sie wirklich, was sie da sagte? Verstand sie überhaupt, was sie
von ihm verlangte? Nein, mit kaltem Entsetzen wurde Degan klar, sie verstand es nicht … sie konnte es nicht verstehen! Xirias
Gedankengänge besaßen für sie eine einfache Logik. Sie liebte ihn, und sie |420| wollte ihm helfen. Dass sie ihm verziehen hatte, war für Xiria bereits ein großer Fortschritt in ihrem Verständnis.
Degan sah sie an und spürte, wie seine Träume zerbrachen. Er erinnerte sich erstmals wieder daran, dass sie versucht hatte,
Dawon zu töten.
»Xiria …«, versuchte er vorsichtig, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, »es geht nicht darum, ob Lin lebt oder stirbt. Ich
will nicht, dass du sie tötest. Ich will nicht, dass du irgendjemanden tötest.«
Ihre feinen Gesichtszüge verdüsterten sich. »Xiria versteht Degan nicht. Er muss sich entscheiden, ob er Xiria oder Lin zur
Gefährtin will!«
Degan spähte vorsichtig zu Lin hinüber, deren Augen von Tränen gerötet waren. »Es wird nichts ändern, wenn sie tot ist«, presste
er leise hervor und vermied den Blick in Xirias blutiges Gesicht.
»Degan gehört zu Xiria! Die Menschen werden ihn nicht bekommen!« Ihre Geduld war am Ende. Sie wandte sich um und trat zu Lin,
die sich noch mehr zusammenkauerte. Sie betrachtete die Kette an Lins Hals und entriss sie ihr mit einer einzigen Handbewegung.
Degan schloss die Augen. Natürlich! Salas Tränen erkannten auch die Spuren von Licht in Xiria, die Degan ihr mit seinem Kuss
geschenkt hatte – die Fähigkeit zu fühlen, die Xiria besaß. Salas Tränen waren für Lin kein Schutz gegen Xiria.
»Xiria kann die Kette berühren, Mador konnte es nicht. Xiria ist mächtig! Sie hat keine Angst vor den Menschen – nicht mehr!«
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