Blutschwestern
schützen und sie wohlbehalten zurückkehren zu lassen. Die Falbhörner schlugen an, ein tiefer klagender Ton legte sich
über den Tempelbezirk. Sie kamen! Seit vielen Sommern hatten die Falbhörner geschwiegen, war die Angst vor dem Ruf des Falbhorns,
das vor nahender Gefahr oder einem Angriff warnte, zu einer blassen Erinnerung für sie geworden. Mit dem ersten Klang waren
die vielen Sommer dahingeschmolzen. Sie war wieder ein junges Mädchen, das von seiner Schwesterkönigin Abschied nahm, das
zu einem erneuten grausamen Opfertag für den dunklen Gott gerufen wurde … Die vielen friedlichen Sommer schmolzen in nur einem
einzigen Augenblick dahin, als hätte es sie nie gegeben. Sie kamen … und es waren so viele! Wie lange hatten die Taluk nicht
mehr gekämpft? Mittlerweile waren die wenigsten von ihnen noch Krieger, diejenigen, die es waren, waren einfach zu alt, um
zu kämpfen; ihre Söhne waren Handwerker, Bauern oder Priester geworden. Ilana wusste, dass Engil nicht standhalten würde.
Die Krieger hatten keine Aufgaben mehr in Engil gehabt, und so hatten immer weniger das Kriegshandwerk erlernt. Ilana und
Tojar hatten es zugelassen. Sie wollten Frieden, keinen Krieg.
Ilana wandte sich abrupt um und rief den jungen Priesterinnen zu, dass sie sich in Salas Tempel verstecken sollten. »Was immer
geschieht … ihr öffnet auf keinen Fall die Tempelpforte.«
Erst als die Mädchen die Türen hinter sich geschlossen hatten, |412| sah Ilana wieder hinauf in den Himmel. Sie kreisten über Engil … Es waren Hunderte.
Nona, meine Gefährtin! Du hast den Schmerz vollkommen umsonst auf dich genommen. Du hättest sie niemals alle befreien können!
Du hast Lin in ihre Fänge getrieben und uns verlassen!
Ilana vernahm das Flappen und Schlagen der riesigen Schwingen über ihrem Kopf. Die Greife waren bereits so nah. Sie kamen
… Gleich waren sie bei ihr! Ilana versuchte die Schreie zu überhören, die aus der Unterstadt drangen. Viele von den jüngeren
Engilianern hatten niemals einen Greif zu Gesicht bekommen. Wie sehr mussten sie sich fürchten?
Weniger als ich, denn sie wissen nicht, wozu diese Kreaturen fähig sind!
Ilana schloss die Augen und wartete darauf, dass einer der Greife sie mit sich riss, und wunderte sich darüber, dass nichts
dergleichen geschah …
Die Frau, die mit geschlossenen Augen auf den Tempelstufen stand, rührte sich nicht.
Xiria setzte mit gespannten Schwingen vor der Menschin auf, gefolgt von ihrer Sippe. Kurz nahmen ihre Augen das verhasste
Bild der Stadt auf, in der sie eingesperrt und gequält worden war, dann warf Xiria einen Blick auf den Tempel, in welchem
Mutter
sie gefangen gehalten hatte. Bitterkeit und Zorn gruben sich tief in ihren Magen. Sie hasste Engil, und sie hasste seine Bewohner.
Sie hasste die Menschen! Es gefiel ihr jedoch, wie sie angstvoll umherrannten, schrien und weinten. Nun fürchtete sie die
Menschen nicht mehr – die Menschen fürchteten sie!
»Xiria will die Lalu-Frau! Xiria will Königin Ilana und ihren König sprechen.«
»Ich bin Königin Ilana«, antwortete die Frau auf den Stufen. Sie öffnete die Augen und bemühte sich dabei um eine feste Stimme.
Xiria konnte ihre Angst riechen. »Was willst du in Engil?«
»Die Lalu-Frau!«
|413| Ilana verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Sie durfte nun keine Angst zeigen. »Die Lalu-Frau ist nicht hier!«
»Xiria und Mador haben Königin Illanas Tochter. Sie wird sterben, wenn die Lalu-Frau nicht nach Dungun geht! Mador besitzt
die Kette und den Prophezeiten«, leierte sie weisungsgemäß Madors Worte herunter.
Xiria sah, wie die Menschenkönigin erneut die Augen schloss, und spürte ein Gefühl des Triumphes in sich aufsteigen. Den Menschen
war ihre Sippe wichtig … nur Xiria hatten sie gehasst. »Die Lalu-Frau soll kommen, dann wird Königin Ilanas Tochter nach Engil
zurückkehren«, verlieh Xiria ihrer Forderung noch einmal Nachdruck. Schließlich nickte die Menschin ihr zu. Xiria wandte sich
um und sah, dass die Greife angestrengt den Duft der Frauen hinter der großen Tempelpforte aufnahmen. Auch Xiria konnte ihren
Duft riechen, nur dass er keine Begierde in ihr hervorrief. Sie hatte ihren Gefährten. Sie waren dumm und gefühllos, diese
Greife, doch sie waren ihre Sippe.
»Wenn Muruk herrscht, könnt ihr alle Menschinnen haben«, versprach sie großzügig und fühlte sich mächtig wie nie zuvor. Die
Menschen, die sie geschlagen und gequält
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