Blutschwestern
und das Kind in Engil. Du kannst nichts gegen sie
ausrichten. Sie sind grausam, so grausam wie Muruk selber.« Die Stimme der Priesterin überschlug sich fast.
»Haben sie … haben sie dich …«, versuchte Nona so taktvoll wie möglich ihre Frage zu formulieren, doch die Priesterin schüttelte
sofort den Kopf. »Nein! Sie wollten es, sie schleppten mich auf einen Baum, doch ich stürzte mich hinunter, und sie ließen
mich liegen, weil sie glaubten, ich wäre tot.«
Nona betrachtete zweifelnd den nackten Körper der Priesterin, doch schließlich nickte sie. »Geh hinauf in Ilanas Haus und
verstecke dich in den Gärten. Dawon ist auch hier.«
Liandra nickte und bemerkte dann Nonas Gewand und die Kette mit Salas Tränen. »Du warst bei den Lalu-Frauen«, flüsterte sie
fast ehrfürchtig. »Sie haben dir Salas Tränen geschenkt.«
Nona legte die Hand auf die Kette, so als hoffte sie, sie könne ihre Angst vertreiben. »Geh jetzt … verstecke dich bei Dawon!«,
wies sie die Priesterin an und half ihr aufzustehen. Nona dankte Sala dafür, dass Liandra sich nichts gebrochen hatte. Ihr
Körper wies zwar unzählige blaue Flecken und Schrammen auf, doch sie konnte laufen. Rasch zog sie einer toten Priesterin ihr
Gewand aus und gab es Liandra.
»Die Schwester braucht es nun nicht mehr«, bemerkte sie entschuldigend. Liandra nickte nur traurig.
»Wo sind sie alle hingegangen?«, fragte sie Liandra, bevor diese sich auf den Weg den Hügel hinauf machte.
»Sie sind in der Unterstadt. Drei Tage lang haben sie Muruk geopfert und ein Schlachtfest vor seinem Tempel veranstaltet.
Vor allem die älteren Frauen und die Männer fielen Muruks Gier zum |184| Opfer. Ich bin einfach liegen geblieben und habe so getan, als wäre ich tot. Ich dachte, ich müsste verdursten, weil sie einfach
nicht gingen. Mir war schwindelig, und dann bin ich ohnmächtig geworden. Ich habe mir heimlich ein paar Blätter des Baumes
genommen und sie gekaut. So habe ich durchgehalten. Vor einigen Stunden sind sie dann in die Unterstadt gegangen, wo sie die
jungen Frauen Engils zusammengetrieben haben und ihren Sieg feiern.« Liandras Augen waren vor Angst geweitet. »Ihr Anführer
ist mit Sasalor in Muruks Tempel gegangen. Was willst du nun tun? Komm lieber mit mir, denk an das Kind! Ohne das Kind sind
wir alle verloren!« Sie versuchte, Nona mit sich zu ziehen, doch diese entwand sich Liandras Griff.
»Hoffen, dass mir Sala ein Zeichen schickt«, erklärte Nona und schickte die Priesterin fort. Sie wäre ihr ohnehin in diesem
Zustand keine Hilfe. Nona dankte Sala dafür, dass Liandra zu verstört war, um sich gegen sie durchzusetzen.
Nona wartete, bis die Priesterin außer Sichtweite war. Dann schlich sie sich zurück zu Muruks Tempel und ging leise die Stufen
hinauf. Sie betete darum, keinem von Muruks Priestern über den Weg zu laufen, als sie die düstere, von Fackeln und Feuerschalen
beleuchtete Tempelhalle betrat. Der Tempel war leer. Anscheinend feierten Muruks Priester mit den Greifen in der Unterstadt.
Nona durchquerte die Tempelhalle, die nicht viel mehr Prunk aufwies als einen steinernen blutbefleckten Altar am Ende, und
suchte vergeblich nach einer Statue des Gottes. Anscheinend fanden selbst seine Anhänger seinen Anblick zu grässlich, als
dass sie es wagten, ein Abbild von ihm aufzustellen.
Am Ende der Halle führte ein kleiner Durchschlupf auf den Tempelhof. Nona duckte sich und trat hindurch. Der Hof war nicht
sehr groß, und tatsächlich stand dort Sasalor neben einem mit allerlei Silberschmuck angetanen Greif. Sie waren in ein Gespräch
vertieft; Sasalor lehnte an der Mauer des Hofes, während der Greif auf der Mauerkrone hockte. Nona sah sich panisch um, gleich |185| würde man sie entdecken, doch hier gab es keine Säulen oder Statuen, hinter denen sie sich hätte verbergen können. Vielleicht
hätte Sasalor sie nicht gesehen, wenn sie sich ruhig verhalten hätte. Doch der Kopf des Greifen flog herum, bevor sie auch
nur einen Schritt tun konnte. Seine eisigen blauen Augen ruhten auf ihr, während sein weißes langes Haar sein Gesicht rahmte
– ein Bild kalter Schönheit und unvergleichlicher Grausamkeit. Er trug Brustpanzer und Schienen aus Greifensilber. Wären seine
Augen nicht gewesen, hätte Nona ihn wunderschön finden müssen, wie er sie hoheitsvoll von der Mauer aus ansah.
Sasalor bemerkte, dass der Greif abgelenkt war, und sah nun ebenfalls in Nonas Richtung. Als er sie
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