Blutschwestern
verzweifelt versucht, seine Art zu denken und zu fühlen zu verstehen! Es war ihr niemals ganz gelungen.
Dawon gehörte ihr nicht, und nur weil sie sich schließlich in ihn verliebt hatte, gab ihr das nicht das Recht, ihn zu besitzen.
Sie nickte der Zauberin zum Zeichen des Verstehens zu und bat dann darum, allein sein zu dürfen. Schwermütig legte sich auf
das schwebende Tuch und ließ ihren Tränen freien Lauf. Es brauchte nur eine einzige Träne, und das Tuch, auf dem sie lag,
glitt zu Boden. Zu schwer schienen ihre menschlichen Gefühle zu wiegen. Nona wischte sich die Tränen aus den Augen. Ihre Gefühle
würden Dawon ebenso niederdrücken wie ihre Tränen das zarte Tuch der Lalu-Frauen. Konnte sie ihm das jemals antun? Sicher,
er liebte sie, doch war er bei all dieser Liebe noch imstande zu wissen, was gut für ihn war? War er in der Lage zu erkennen,
dass Nona nicht gut für ihn war? Sie schloss die Augen und ließ sich in ihren Träumen |176| erneut durch das schwarze Loch führen. Wieder folgte sie ihrem Körper, der vorausging, und schließlich lag Engil in ihrem
Traum vor ihr. Die fremde Nona wandte sich zu ihr um, und dann wies sie mit einem Finger auf Engil. Nona hatte verstanden.
Sie musste aufbrechen, alle Trauer um ihre eigenen Gefühle brachte sie nicht weiter.
Als sie sich am nächsten Morgen erhob, war sie allein. Das im Wind flatternde Haus der Lalu-Frauen war verschwunden. Um sie
herum gab es nur noch Wiesen. Noch nicht einmal das Gras war zerdrückt. Bis zum Horizont konnte Nona nur das Grün der Wiesen
sehen; es war, als hätte hier niemals ein Haus gestanden.
Nona berührte den Stoff ihres Gewandes und die winzigen Tränen Salas an ihrem Hals, die einzigen Zeichen dafür, dass sie nicht
geträumt hatte. Dann erhob sie sich und versuchte sich zu erinnern, in welcher Richtung der See gelegen hatte, da ihr nun,
ohne das Haus als Orientierungshilfe, jedes Gefühl für die Himmelsrichtungen fehlte. Während sie noch dastand und nachdachte,
vernahm sie jedoch ein eigentümliche Rauschen, das nur von Dawons Schwingen stammen konnte. Nona legte die Hand an die Stirn
und blickte zum Himmel. Tatsächlich setzte er kurz darauf leicht wie ein Lufthauch vor ihr auf. Nona ließ sich in seine Arme
sinken.
»Sie sind fort«, sagte sie ratlos. »Ich wollte sie noch so vieles fragen.«
»Sie sind gegangen, als Nona schlief«, antwortete er. »Sie haben Dawon gesagt, ihre Aufgabe sei erfüllt und Dawon solle Nona
bringen, wohin immer sie will. Nona wird sie nicht finden, denn Lalu-Frauen ziehen mit dem Wind, und wollen sie nicht gefunden
werden, findet sie niemand.«
Er sah sie sanft an und fragte: »Also, Nona Gefährtin, wohin soll Dawon dich tragen?«
»Ich muss zurück nach Engil«, sagte sie leise. »Die Greife sind auf dem Weg dorthin. Ich muss sie aufhalten … irgendwie.«
|177| Er zog sie an sich und bedeutete ihr sich festzuhalten. Kurz durchfuhr sie die wohlige Wärme und die tiefe Liebe, die er ihr
schenkte. Nona versuchte die aufkommenden Gefühle zu unterdrücken. Sie musste sich bemühen, sich damit abzufinden, dass Dawon
bald nicht mehr an ihrer Seite sein würde.
|178| Der Fluch der Greife
Sasalor, Hohepriester des Muruk in Engil, sah hinauf in den Himmel, wo sich Hunderte von riesigen Vögeln zu tummeln schienen.
Es waren nicht wirklich Vögel … sie waren endlich gekommen. Die Greife! Grausig schön anzusehen waren sie, wie sie dort ihre
Bahnen zogen, bevor sie hinabstießen und sich ihre Opfer suchten. Er lachte laut auf, als die Menschen von Engil begannen,
schreiend und angstvoll durcheinanderzulaufen. Karok hatte es ihn wissen lassen, er hatte seine Stimme in Sasalors Kopf erklingen
lassen und ihn auf die Übernahme Engils vorbereitet. Nun waren sie hier, um Angst und Schrecken zu verbreiten und um Salas
Licht in Engil ein für alle Mal erlöschen zu lassen. Ruhig und bestimmt wies er einen seiner jungen Priester an, ihm einen
Stuhl zu bringen und ihn auf den Vorhof des Tempels zu stellen, von wo aus er die gesamte Ober- und Unterstadt im Blick hatte.
Es würde ihm Freude bereiten, sich dieses Spektakel mit anzusehen. Viel zu lange hatte Engil der Herrschaft des dunklen Gottes
getrotzt. Die Greife kamen näher, glitten tiefer, und Sasalor konnte ihre Brustpanzer sowie ihre Arm- und Beinschienen aus
gleißendem Greifensilber erkennen. Wie weiß glühende Pfeile stießen sie aus der Luft auf die Menschen herab und
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