Blutschwestern
Sasalor, dann ging sie in eine lauernde Stellung und wandte sich dem Hohepriester zu. Ganz offensichtlich konnte der Greif
sich daran erinnern, wer er einst gewesen war, bevor er von Sala verflucht und von Muruk in einen menschlichen Körper gefesselt
worden war; und ganz offensichtlich zürnte er nicht nur Sala für ihre Tat, sondern wandte sich nun ebenfalls gegen die Anhänger
Muruks, für die er einst gekämpft hatte. Sasalor wollte zurückweichen, doch in seinem Rücken war nur die Mauer, und hinter
der Mauer erstreckte sich ein Abgrund.
»Tu doch etwas!«, kreischte er Nona entgegen.
»Wovor hast du Angst, Sasalor?«, krächzte sie mit noch immer brennendem Hals. »Freust du dich denn nicht darüber, in Muruks
Reich zu gehen … so wie du es immer den Mädchen vorgehalten hast, bevor du ihnen die Kehle durchtrennt hast!«
Salalor wollte etwas entgegnen, doch dafür war es zu spät. Es gab |188| keinen Ausweg für ihn. Ein weiterer Schrei ertönte, dann sprang der Greif dem Priester entgegen und packte ihn mit seinen
scharfen Klauen. Sein riesiger Schnabel hackte auf den Kopf des Hohepriesters ein. Nona schloss die Augen, um alles Weitere
nicht mit ansehen zu müssen. Sasalor blieb noch nicht einmal mehr die Zeit zu schreien.
Als es wieder still war, öffnete Nona erneut die Augen, keinen Augenblick zu früh, wie sie feststellte. Der Körper des Priesters
hing leblos über der Mauer. Wo sein abgetrennter Kopf lag, vermochte Nona nicht zu sagen.
Das Wesen wandte sich zu ihr um und wollte auch auf Nona zustürmen, doch sie hob ihre Hand in der verzweifelten Hoffnung,
dass der Greif sie verstand.
»Sala hat den Fluch von dir genommen! Sei damit zufrieden, Greif, lass keinen neuen Krieg entbrennen. Jahrtausende sollen
genug sein!«
Der Greif blieb stehen und starrte sie unschlüssig aus kleinen funkelnden Raubvogeläuglein an. Dann schüttelte er sich noch
einmal, stieß einen lauten Schrei aus und erhob sich in die Luft. Nona sah ihm hinterher, wie er Engil einfach hinter sich
ließ und davonflog. Langsam ließ das Brennen in ihrer Kehle nach. Die Schwere auf ihren Lungen blieb jedoch. Sie rappelte
sich auf und klopfte den Sand aus ihrem Gewand. Und
das
sollte auch aus Dawon werden? Aus dem Wesen, das sie wegen seiner Sanftheit und Güte liebte? Ein Geschöpf, das einem Raubtier
ähnlicher war als einem mitfühlenden Wesen?
Nona schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, sich zu grämen, sosehr sie auch unter der Vorstellung litt, ihn zu verlieren.
Es war der Preis, den Sala forderte. Sie musste ihn zahlen, ebenso wie Dawon, Ilana und Akari dies taten. Dieses Mal würde
sie nicht im entscheidenden Moment versagen und sich ihrer Bestimmung entziehen.
|189| Dawons Entscheidung
Als Nona aus dem Tempel trat, stützte sie sich an eine der großen Säulen und rang nach Luft. Noch immer lag dieser Druck auf
ihren Lungen, der ihr den Atem zu rauben schien. Was immer der Greif in sich gehabt hatte, es war nun in ihr und wütete dort.
Würde es schlimmer werden, wenn sie den anderen Greifen begegnete? Ihr Kind war mächtig und gab ihr Kraft, aber würde diese
ausreichen? Waren es Salas Tränen, die sie das hatten tun lassen, was sie getan hatte?
Nicht ich war es – du bist es gewesen!
dachte sie und legte die Hände schützend auf ihren Bauch. Sie überlegte, was sie nun tun sollte. Sicherlich könnte sie nicht
einfach in die Unterstadt stürmen und sich auf die Greife stürzen. Wieder berührte sie die Kette an ihrem Hals. Mittlerweile
war sie erkaltet, doch die Tränen Salas hatten drei kleine rote Brandmale auf ihrem Hals hinterlassen. Sie dachte an die vielen
Frauen von Engil, die in diesem Moment von den Greifen geschändet wurden. Was blieb ihr für eine andere Wahl, als das Unmögliche
zu versuchen. Sasalor war tot und ihr Anführer fort. Vielleicht wären sie unsicher ohne einen Führer in ihrer Mitte.
Nona schleppte sich die Tempelstufen hinunter. Schwer wie ein Klumpen aus Rotmetall schien das Kind in ihrem Bauch, doch sie
schaffte es, sich zusammenzureißen und die Tempelstadt zu verlassen. Immer weiter ging sie die leeren Straßen Engils hinunter,
welche in die Unterstadt führten. Diejenigen, die noch lebten, hatten sich irgendwo versteckt, in der Hoffnung, dass die Greife
bald abzogen. Nona allein wusste, dass sie nicht gekommen waren, um |190| wieder zu verschwinden. An der Brücke, die über den Sandfluss führte, machte sie eine kurze Pause, um
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