Blutseele
Stärke seiner Liebe füllen würde, war einfach eine zu große Verlockung. Er liebte sie. Er liebte sie, obwohl er wusste, dass sie der Grund für seine Krankheit war. Er liebte sie, obwohl er wusste, dass sie eine Banshee war und unfähig, ihm nicht seine Gefühle und Stärke auszusaugen. Sie brauchte das Gefühl seiner Arme um sich, nur für einen Moment.
Voller gespannter Erwartung, die ihre Haut zum Kribbeln brachte, stand Mia auf, zog ihre Einkaufstüte auf die Hüfte und setzte sich in Bewegung. Sie machte sich nicht die Mühe, den Regenschirm aufzuspannen, als sie voller aufgesetztem Selbstbewusstsein die Straße überquerte und zielstrebig auf die schlichte Tür zuhielt. Sie schaute weder nach rechts noch nach links und betete, dass niemand sie bemerken würde.
Dann schob sie die Glastür auf und glitt in den Flur. Es war nur ein schmaler Gang, in dem die Briefkästen hingen. Sie hob das Kinn und fuhr sich mit einer Hand durch die nassen Haare. Jetzt, wo sie nicht mehr auf der Straße war und es nicht mehr viele potenzielle Zeugen gab, fühlte sie sich sicherer. Die glatten Fronten der Briefkästen warfen ein verschwommenes Bild zurück, überwiegend Farben: schwarzes Haar, bleiche Haut und ein fast schwarzer Mantel.
Mia ließ ihren Regenschirm in einer Ecke stehen und ging über die Treppen nach oben, um nicht von der Kamera im Lift gefilmt zu werden. Die offene Treppe, die sich mitten im Gebäude nach oben schraubte, war nicht überwacht, und jeder, der aus seiner Tür sah, würde nur eine ungewöhnlich kleine Frau mit einer Einkaufstüte sehen, die im Regen nass geworden war. Aber die Sorge, dass jemand sie wirklich bemerken könnte, keimte wieder auf, und sie beschleunigte ihre Schritte. Und mit jedem Stockwerk, das sie höher stieg, wurde sie stärker.
Um sie herum war der Fluss des Lebens, der unter den Türen hinaus in den Flur glitt wie der Geruch von Gebackenem oder aufdringliches Putzmittel. Es glitt um ihre Füße und sammelte sich in Pfützen auf den Stufen. Sie watete hindurch wie durch eine sanfte Brandung. Sie konnte die Energie sehen, welche die Leute hinter den Türen abgaben, Ärger hier, Frustration dort. Sie wurde langsamer, als sie die sanftere, schwerer auszumachende Emotion der Liebe spürte, nur ein Hauch, der vor der Tür schwebte wie ein feines Parfüm.
Sie blieb stehen und verweilte unter dem Vorwand, erschöpft zu sein, vor einer Tür, hinter der leise Musik und Gelächter erklangen. Liebe und Verlangen trugen die meiste Energie, aber sie waren schwer zu finden. Nicht, weil sie selten waren, sondern weil Leute diese Gefühle auf eine bestimmte Person richteten und das Gefühl ansonsten dicht bei sich behielten, als wüssten sie, wie mächtig es war. Liebe drang selten über die Aura einer Person hinaus, außer sie floss direkt in eine andere Person. Nicht wie die wilde Bitterkeit von Wut, die Leute von sich schleuderten wie den Dreck, der sie war.
Mia schloss die Augen und saugte die zarte Liebe in sich auf, die das Paar im Flur hinterlassen hatte, als sie nach dem Schlüssel suchten. Es war erst vor ein paar Stunden gewesen, und obwohl es sie stärkte, bereitete es ihr doch auch Schmerzen. Es war zu lange her, dass sie die volle, ungeschützte Wärme einer anderen Aura gespürt hatte. Sie war es leid, sich von Müll oder gestohlenen Resten von Liebe zu ernähren.
Ein plötzlicher Entschluss ließ sie ihren Ring abnehmen. Sie steckte ihn in die Tasche und befühlte schuldbewusst den Stoff, um zu sehen, ob es einen verräterischen Abdruck gab. Dann ging sie mit hoch erhobenem Kopf weiter ins oberste Stockwerk.
Toms Tür war nicht verziert. Sie klopfte leise, und ihr Puls raste, während sie hoffte, gehört zu werden. Sie wollte nicht, dass ein Nachbar sich an das Klopfen erinnerte. Tom hatte ihr versprochen, dass er niemandem erzählen würde, dass sie eine Banshee war. Er hatte Angst, dass sie ihn dahinsiechen sahen und ihn davon überzeugten, sie niemals wiederzusehen. Sie sollte so schnell nicht wieder herkommen, aber die Erinnerung an seine Liebe war wie der Geruch von Blüten; er verlangte danach, in sich aufgesogen zu werden, und war unwiderstehlich.
Die Tür öffnete sich so schnell, dass sie einen Schritt zurücktrat, dann starrte sie Tom an, die Augen weit aufgerissen und mit angehaltenem Atem. Er sah gut aus. Besser als das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte. Die Falten in seinem Gesicht waren weniger tief, entsprachen jetzt eher seinem wahren Alter, Mitte
Weitere Kostenlose Bücher