Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutseele

Blutseele

Titel: Blutseele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Harrison
Vom Netzwerk:
dreißig. Er war groß und früher einmal herrlich kraftvoll gewesen, wenn auch eher schmal. Aber seitdem er sie vor einem Jahr beim Einkaufen getroffen hatte, hatte er einen Großteil seiner Körpermasse verloren und sah aus, als würde er sich von einer langen Krankheit erholen. Sein kurzes braunes Haar war sauber, aber noch zerstrubbelt vom Duschen, und er trug Jeans und ein bequemes Flanellhemd gegen die Kälte.
    Als er sie sah, lächelte er, und Freude ließ sein langes, etwas fahles Gesicht strahlen. Seine Haut war bleich vom Mangel an Sonnenlicht und seine Muskeln hatten ihre Stärke schon vor Monaten verloren. Seine Finger, lang genug, um sein Instrument mit großer Kunstfertigkeit zu spielen, wirkten dünn, als er sie in eine Umarmung zog.
    Mia fühlte seine Arme um sich und wäre fast sofort wieder gegangen. Sie atmete seine erste Freude ein und erkannte, dass es zu früh war. Sie sollte nicht hier sein, selbst wenn sie sich nach ihm sehnte. Vielleicht hatte sie jemand gesehen, und er hatte sich auch noch nicht wieder vollständig von ihrem letzten Besuch erholt. Aber sie war so müde, und selbst ein Hauch seiner Liebe würde sie erfrischen.
    »Ich habe dich auf dem Gehweg gesehen«, sagte Tom, als er fühlte, wie sich ihre Schultern versteiften. Seine Hände glitten von ihr ab. »Ich bin froh, dass du hochgekommen bist. Es ist so einsam hier, ganz allein. Komm rein. Nur für einen Moment.«
    Ihr Puls raste, und mit schuldbewusster Hast trat sie in sein Apartment. »Ich kann nicht bleiben«, sagte sie mit hoher Stimme. »Tom, ich habe mir geschworen, dass ich nur kurz vorbeischaue, um Hallo zu sagen, dann muss ich wieder weg.«
    Sie hörte selbst, wie panisch sie klang, und biss sich auf die Unterlippe, während sie sich von Herzen wünschte, die Dinge wären anders. Das Klicken der sich schließenden Tür vermischte sich mit dem sanften Hintergrundgeräusch des Radios. Die Wärme seiner Wohnung hüllte sie ein, und sie fühlte, wie sie sich in der gefühlsgeschwängerten Luft entspannte. Er hatte sein Instrument gespielt, und das erfüllte seine Räumlichkeiten immer mit Leben. Das war es, was sie überhaupt zu ihm hingezogen hatte, als er summend an den Trauben vorbeigegangen war und dabei Freude hinter sich hergezogen hatte wie eine Symphonie. Langsam lösten sich ihre Zähne wieder voneinander, und die Sorge und das Schuldgefühl verschwanden. Sie konnte nicht anders. Das war es, was sie war.
    »Lass mich das nehmen«, sagte er und griff nach ihrer Einkaufstüte. Sie ließ es zu und folgte ihm geräuschlos den Flur entlang in die Küche, während sie ihren Mantel öffnete. Die Küche war zum Wohnzimmer hin offen. Dort spielte Tom gewöhnlich sein Instrument, jetzt, wo er die meiste Zeit zu müde war, um zur Universität zu gehen. Am Ende des Flurs lagen noch ein einzelnes Schlafzimmer und das Bad. Alles war aufgeräumt und sauber, eingerichtet in beruhigenden Tönen wie Braun und Grau. Die Einrichtung war einfach und männlich, und Mia liebte den Kontrast zu ihrem eigenen Zuhause, das von der primärfarbengeprägten Unordnung eines Neugeborenen erfüllt war.
    »Ich bleibe nicht lang«, sagte sie, als sie bemerkte, dass seine dünnen Hände zitterten. »Ich bin zufällig vorbeigekommen, und … ich habe dich vermisst.«
    »Oh, Mia«, sagte er, und seine tiefe Stimme hüllte sie genauso ein wie seine Aura, als er sie in die Arme nahm. »Ich weiß doch, wie sehr Regen dich deprimiert.«
    Deprimiert war nicht ganz das richtige Wort. Er deprimierte alle anderen, und das wiederum dämpfte alle Emotionen, die sie abgaben. Sie war hungrig, deshalb senkte sie schnell den Blick, bevor er ihr zunehmendes Verlangen in ihren fahlblauen Augen sah.
    »Ich habe dich auch vermisst«, flüsterte er, und sie schloss die Augen, als die Glückseligkeit seiner Liebe in sie eindrang, während seine Arme sie zärtlich an sich drückten, ihr vergaben, was sie ihm antat, weil er wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Der Geruch seiner Seife war scharf, und sie zog sich zurück, als sie hörte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte. Sie zog seine Stärke aus ihm, während sie sich in seiner mit Gefühlen erfüllten Aura sonnte. Deswegen war er schwach. Eine Person konnte eine erstaunliche Menge ihrer Aura ersetzen, aber wenn man zu viel zu schnell nahm, starb die Person, weil ihre Seele der Welt ohne Schutz ausgesetzt wurde.
    »Es tut mir leid«, sagte sie und blinzelte, um ihre eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten.

Weitere Kostenlose Bücher