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Blutsgeschwister

Blutsgeschwister

Titel: Blutsgeschwister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dia Reeves
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friedlich schlummernder Wald war nun wach und bebte vor Boshaftigkeit. Sie flüsterte: »Kreischer? So weit in der Oberstadt?«
    Kit sagte nichts, aber als das Gelächter anschwoll, verdüsterte sich ihr nachdenkliches Gesicht.
    Fancy hatte einmal mitbekommen, wie Big Mama von einem Mann erzählt hatte, neben dem sie damals in den Fünfzigern als Kind gewohnt hatte. Der Nachbar hatte einen Kreischer gefangen und ihn in seinem Vorgarten wochenlang wie ein Haustier angekettet gehalten. Big Mama hatte sich zu Tode gefürchtet, wenn sie auf dem Weg zur Schule dort vorbeigehen musste. Sie hatte gesagt, das Schlimmste daran war, wie menschlich er ausgesehen hatte: eine schleimig weiße Schaufensterpuppe mit einem kürbisgroßen Kopf und pinkfarbenen Augen. Nie bellte er oder lachte oder machte sonst irgendwelche Geräusche, wie sie Kreischer normalerweise machen, doch jedes Mal, wenn Big Mama am Vorgarten des Nachbarn vorbeiging, folgte ihr der Kreischer mit seinen Augen und schien sie mit seinem weißen, nadelzahnigen Mund quer übers ganze Gesicht anzugrinsen.
    Aber eines Tages, als sie auf dem Weg zur Schule war, sah Big Mama, dass der Kreischer weg war. Stattdessen war der Nachbar am Hals angekettet, und der untere Teil seines Körpers war einfach weg. Aufgefressen.
    Fancy zog ihre Schwester am Arm. »Lass uns zurückgehen.«
    »Scheiß drauf.« Kit schüttelte sie ab. »Ich lass mich doch nicht von ein paar herumstreunenden Kreischern aus meinem eigenen Wald vertreiben.«
    Sie drehte sich langsam um, als wollte sie, dass die Kreischer genau zu sehen bekamen, wen sie da auslachten.
    »Es ist zwei Uhr nachmittags, ihr ekligen Dinger!«, schrie sie und erschreckte damit nicht nur Fancy, sondern den gesamten Wald. »Hört sich das nach Abendessenszeit an? Ihr glaubt, ihr könnt in unseren Wald kommen und aus uns eine Mahlzeit machen? Das ist unser Wald! Hört ihr mich? DAS IST UNSER WALD!«
    Stille.
    Kit wartete, scannte die gesprenkelten Bäume, reglos wie ein Tier, bereit, jede Gelegenheit zu ergreifen, um zuzuschlagen. Fancy stellte sich die Kreischer vor, wie sie ihre Jungen zusammenriefen und sich in einen sichereren Teil des Waldes schlichen. Fancy konnte nicht anders, sie musste über ihre Schwester lächeln – Kit war so eine coole Sau.
    Als die Stille ungebrochen anhielt, entspannte sich Kit und sagte: »Da ist einer.«
    Fancy klammerte sich an Kit. » Ein Kreischer?«
    »Nee, du Dummkopf, ein Hexenring.«
    Fancys Blick folgte Kits ausgestrecktem Finger, der auf einen Pilzkreis von über einem halben Meter Durchmesser zeigte. Der Kreis war fast vollständig vom Unterholz einiger Hartriegelbäume verdeckt. Die Pilze, die den Kreis formten, waren keine märchenbuchtauglichen Fliegenpilze, sondern wirkten eher wie Schweinsohren – schleimige braune Pilze, die aussahen, als hätte man einer Kreatur das Fleisch abgekratzt und es zum Verrotten auf dem Boden liegen lassen.
    Als Fancy abfällig die Lippen schürzte, sagte Kit: »In der Not frisst der Teufel Fliegen. Komm schon und lass uns diesen Quatsch hinter uns bringen.« Sie gingen zu den Schweinsohren, und als sie vor dem Pilzkreis standen, schrie ein Habicht irgendwo über ihnen. Ansonsten war der Wald unnatürlich still, als hätte allein schon die Nähe zu dem Hexenring die Schwestern zumindest halbwegs aus dieser Welt gebracht. Fancy konnte spüren, wie sich die Schnüre, die Zeit und Raum zusammenhielten, lösen wollten. Es galt nur, die richtige Stelle zu finden, an der sie ziehen musste.
    Fancy markierte den Anfangspunkt mit einem Foto von Daddy, das einen Monat vor seiner Verhaftung aufgenommen worden war. Er hatte mit freiem Oberkörper eine Muskelprotzpose eingenommen, was zum Schreien komisch war, weil Daddy fast so dünn war wie Kit.
    »Wofür ist das Bild?«, fragte Kit und sah zu, wie Fancy das Foto genau an einem der Pilze positionierte.
    »Um mich besser konzentrieren zu können. Sch!« Sie sah lange auf das Bild, bis sie fast schon Daddys Blut durch seinen Bizeps pumpen sah. Sie behielt das Bild im Kopf, darum bemüht, eine Tür zu ihm zu öffnen, so wie sie versucht hatte, ihn im Kinetoskop zu sehen. Hoffentlich würde sie heute mehr Glück haben.
    »Bereit?«
    Kit verdrehte die Augen, was Fancy als Zustimmung wertete.
    »Eins, zwei, drei, los.«
    Die Schwestern gingen in unterschiedliche Richtungen um den Hexenring.
    Fancy griff nach ihrer Schwester. »Nicht so rum. Gegen den Uhrzeigersinn.«
    »Wir gehen nie gegen den

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