Blutsgeschwister
»Was für eine entsetzliche Scheißmusik.«
»Willst du, dass sie aufhört?«, fragte Kit, fröhlich wie immer. »Ist das dein Wunsch?«
»Nein, das gibt mir auch keine Ruhe.«
»Was denn dann? Sag es mir. Ich geb dir alles, was du willst.«
Die Leiche wandte sich zu Gabriel und Ilan, die neben Fancy am Rande des Beets standen. Sie hatte keine Augen, aber ihr Blick war trotzdem intensiv. Intensiv genug, um Gabriel einige Schritte zurücktreten zu lassen. »Meine Söhne. Ich will, dass sie bei mir sind, so wie ich es mir immer gewünscht habe. Ich verstehe nicht, warum der Tod uns trennen sollte.«
»Was meinst du?« Kit runzelte die Stirn. »Ich kann dich nicht ins Leben zurückholen. Niemand entkommt dem Tod.«
»Aber du kannst sie zu mir bringen«, sagte die Leiche. »Besonders den, der mich umgebracht hat. Das ist nur gerecht.«
»Wer hat dich umgebracht?«
»Mein Sohn.« Aber der tote Mann zeigte nicht mit seinem verbliebenen, knochigen Arm auf Gabriel, wie Fancy erwartet hatte.
Er zeigte auf Ilan.
AUS FANCYS TRAUMTAGEBUCH:
Kit und Madda und ich gaben unten im Keller eine Party für Daddys Opfer, aber nur einer der Gäste kam vorbei, und der war irgendwie ein Wichser. Er sagte, es sei zu kalt im Keller, und die Musik sei zu langsam zum Tanzen und warum wir die Weihnachtsdeko genommen hätten, obwohl es gar nicht Weihnachten sei, und er sei echt wütend, weil es kein Essen gab. Sogar nachdem ich ihm erklärt hatte, dass er tot sei und nicht essen müsse, wollte er keine Ruhe geben, und wir warfen ihn raus und verschlossen die Tür vor ihm.
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
»Nein.« Fancy schoss vor und schlug der Leiche so fest auf den Zeigefinger, dass einer der Knöchel abfiel. »Zeigen Sie nicht auf ihn. Gabriel hat Sie umgebracht. Nicht Ilan.«
» Mr. Turner?«, fragte Kit, und ihr Gesicht war fast weiß vor Verwirrung. »Moment mal. Daddy hat Mr. Turner umgebracht«, sagte sie zu Fancy. »Jeder weiß das.«
»Guthrie wollte mich nicht umbringen. Er wollte meinen Sohn umbringen. Meinen Gabe.« Mr. Turner streckte beschwörend die Hand nach Gabriel aus.
Gabriel sah auf das gebrochene Handskelett, als wäre es eine züngelnde Kobra, und schob seine Hände in die Hosentaschen.
Mr. Turner ließ die Hand sinken und sagte mit schwerer Stimme: »Ich hatte gehofft, er würde sich dich wieder vornehmen, damit wir endlich zusammen sein könnten, aber …«
»Sprich nicht mit ihm!« Ilan trat zwischen seinen Vater und Gabriel.
»Ilan.« Fancy fing seinen Blick auf, aber nur kurz. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. » Du hast Mr. Turner getötet?«
»Ilan war schon immer eifersüchtig auf seinen Bruder«, sagte Mr. Turner. »Auf die Aufmerksamkeit, die er von mir bekam. Er hat meinen Gabe vergiftet. Wusstest du das? Er hat den armen Jungen sogar die Treppe runtergestoßen. Aber ich vergebe ihm.«
»Du vergibst mir?«, schrie Ilan.
»Eifersucht ist nur ein Zeichen von Zuneigung. Ich habe das sogar damals verstanden.«
Ilan warf sich auf Mr. Turner, der ihn sich schnappte und so fest hielt, dass Fancy die Knochen knacken hörte – ob die von Mr. Turner oder von Ilan, konnte sie allerdings nicht sagen.
»Ich weiß, du hast es nicht so gemeint«, zischte Mr. Turner in Ilans Ohr. »Ich weiß, du wirst es wiedergutmachen.«
»Lassen Sie ihn gehen!« Fancy versuchte, Ilan loszureißen, aber Mr. Turners knochiger Griff wollte sich nicht lockern.
Kit stieß Fancy aus dem Weg und sagte zu Mr. Turner: »Wenn Ilan derjenige ist, der Sie umgebracht hat, warum wollen Sie dann Gabe auch haben? Er hat Ihnen nichts getan.«
»Du hast gesagt, ich könnte alles haben.« Die Düsternis in seiner Stimme ließ Fancys Haare zu Berge stehen. »Du hast es versprochen.«
»Dann nehm ich’s zurück!«, rief Kit, unbeeindruckt von Mr. Turners Stimme. »Ich werde doch niemals …«
Mr. Turner ließ Ilan los und stieß Kit zu Boden. Er bohrte seine Knie in ihren Bauch und legte seine Hand über ihr Herz, über diese leere Stelle, die nicht so leer war, wie sie gedacht hatte. Sie war voller Leben, und Mr. Turner sog es aus ihr heraus.
»Nein!«, schrie Fancy und musste zusehen, wie ihre Schwester verfiel, zusammenschrumpfte und zerbrach wie eine Mumie, wie etwas, das mit ihm zusammen aus der Erde gekrochen war. Fancy stürzte sich auf ihn und riss ihm ein paar Rippen heraus, aber sie konnte ihn nicht von ihrer Schwester ziehen. Gabriel und Ilan versuchten zu helfen, sie zerrten und zogen an ihrem Vater, aber er wollte nicht
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