Blutsgeschwister
großen Schub, sondern in Phasen, langsam und unaufhaltsam wie der Himalaja. Er richtete seine raue Aufmerksamkeit auf Fancy. »Du bist fünfzehn?«
»Ja«, sagte Kit, als Fancy nicht antwortete.
»Sieht man«, sagte er und ignorierte Kit. »Wenn du glaubst, dass so ein Kleinmädchenfähnchen das alles versteckt«, er wedelte mit der Hand in Richtung ihres Körpers, »dann liegst du falsch.«
Fancy verschränkte die Arme über ihrer Brust. Er hatte lange Glieder, wie Kit, als wäre er dafür gebaut, in den Feldern zu jagen. Er sah aus, als wollte er Fancy jagen – etwas Raubtierhaftes und Verstörendes trat in seine Augen, als er sie betrachtete.
Ilan richtete seinen beunruhigenden Blick auf Kit. »Eure Familie sollte sich mal zusammensetzen und was gegen ihren Kleidungsstil tun. Das ist kriminell.«
»Fang du mal nicht von Familie an«, blaffte Fancy. »Wie du deine eigene Familie behandelst, das ist kriminell.«
Alle gafften. Das Einmachglas fiel Gabriel auf den Boden und explodierte wie ein Gehirn.
»Träume ich«, sagte Ilan, »oder hast du gerade gesprochen?«
»Hat sie, Mann!«, rief Gabriel. »Ich hab’s auch gehört!«
»Man erzählt sich ja, dass sie reden kann«, sagte Ilan zu seinem Bruder, »aber ich dachte immer, das wäre so was wie, na ja, eine urbane Legende.«
Fancy rannte zur Hintertür hinaus. Sie konnte nicht glauben, dass sie sich so sehr hatte reizen lassen, dass sie mit Fremden geredet hatte.
Kit rannte ihr nach und rief: »Fancy hat ’nen Freund, Fancy hat …«
»Halt den Mund!«
Kit holte sie lachend ein. »Wo gehst du hin?«
Als Fancy merkte, dass ihr überstürzter Aufbruch für Aufmerksamkeit sorgte, bremste sie sich zu einem raschen Gehen herunter. »Zum Super Seven . Da können wir Madda treffen. Ich werde keine Sekunde mehr in diesem Haus warten.«
»Warum? Hast du’s eilig, Madda von deinem neuen Freund zu erzählen?«
»Hör auf damit!«
»Na ja, du musst ihn schon mögen, oder warum redest du mit ihm?« Kit war so außer sich, dass sie fast schrie. »Du sprichst nie mit jemandem.«
»Ich hab nicht mit ihm gesprochen«, protestierte Fancy. »Ich wollte nur erklären, dass … Ach, sei still. Als ob ich mich je für einen Jungen interessieren könnte, der so gemein zu seinem eigenen Bruder ist. Auch wenn sein Bruder ein Spinner ist.«
»Wovon redest du?«
Während die Schwestern die Seventh Street entlangeilten, erzählte Fancy, wie sich Gabriel vor dem Musikgeschäft aufgeführt hatte.
Kit zuckte nur mit den Schultern. »Jeder würde einen herumliegenden Kopf aufheben. Weißt du noch, als wir klein waren und die Leute uns noch mochten? Ein paar von uns hatten diesen abgetrennten Kopf auf einem Feld gefunden, und wir haben damit Kickball gespielt. Und du …«
»Entschuldige ihn nicht auch noch«, sagte Fancy in ihrem strengsten Ton. »Es ist eine Sache, den Schädel von jemandem als Ball zu benutzen. Aber es ist eine ganz andere Geschichte, ihm Geheimnisse ins Ohr zu flüstern. Irgendwo muss man Grenzen ziehen, Kit. Ich meine, du hättest ihn sehen sollen. Es war so krank.«
»Willst du wissen, was krank ist? Dass du dich mit einem Jungen unterhältst.«
»Hab ich doch gar nicht!«, zischte sie, weil sie es nicht so herausschreien konnte, wie sie wollte. Die Wohngegend der Seventh Street verwandelte sich allmählich in die Geschäftsgegend, und immer mehr Leute drängten sich auf den Bürgersteigen. Das Letzte, was Fancy wollte, war, noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Ein Satz ist noch keine Unterhaltung.«
»Für deine Verhältnisse war das eine ziemlich ausschweifende Rede. Warum hast du mir denn nicht erzählt, dass du sie vorher schon getroffen hast?«
»Weiß ich nicht. Nachdem ich dich mit der Verkäuferin gesehen hatte, schien das nicht mehr so wichtig zu sein.«
»Verstehe. Verknallt zu sein macht mehr Spaß, wenn es geheim bleibt.«
Fancy wusste nicht, ob es an der Hitze lag oder an Kits Hänseleien, aber ihr Kopf fühlte sich heiß genug an, um zu explodieren. »Ich bin nicht heimlich in Ilan verliebt. Ilan.« Fancy sagte es noch einmal. »Iiilan. Was für ’n dummer Name ist das überhaupt? Ein französischer?«
»Wir sind französischer als er. Wir stammen von den du Havens ab.«
»Wir haben den du Havens gehört . Das ist ein kleiner Unterschied.«
»Spielverderberin.« Das geschäftige Treiben auf der Straße wurde für eine Weile unterbrochen, weil jeder, auch die Schwestern, stehen blieb, um einem Trauerzug nachzusehen.
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