Blutsgeschwister
auf. Er wischte die Hände an seinen Jeans ab und schob sich vor Gabriel, als wollte er ihn hinter sich verstecken. »Du hast nicht zufällig Feuchttücher dabei?«, fragte er sie.
Fancys Antwort war die spontane Flucht vor Ilan und seinem durchgeknallten Bruder. Sie rannte, so schnell sie konnte. Als sie zurück in der Gasse war, platzte sie fast vor Neuigkeiten. Doch der Anblick der Verkäuferin, die vor Kits Füßen ausgestreckt auf dem Boden lag – die Pfützen ruinierten ihr schwarzes Seidenkleid –, ließ Fancys Mitteilungsdrang ersterben.
»Endlich!«, schrie Kit und grinste. Ihr Gesicht war mit Blut bespritzt. Es war nicht viel, aber Fancy hätte darauf Verbinde-die-Punkte spielen können. »Ist das Ananas?«
»Ich hab’s gewusst«, sagte Fancy, als Kit ihr das Eis abnahm. »Das ganze Gerede von wegen Vertrauen, nur damit du hier im hellsten Tageslicht irgendein dummes Mädchen umbringen …«
»Sie ist nicht tot.«
Fancy überprüfte den Puls der Verkäuferin und atmete tief aus, als sie feststellte, dass er fest und regelmäßig war. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte.
»Ich hab ihr nur ein bisschen auf den Kopf gehauen.« Kit warf den Ziegelstein in die Luft und fing ihn mit einer Hand hinter ihrem Rücken auf. »Kit Cordelle, auch bekannt als die Knüppelfrau.«
»Knüppelfrau. Knochensägen-Killer.« Fancy angelte ein Feuchttuch aus ihrer Tasche, schob die Schiebermütze zurück und säuberte Kits Gesicht. Dabei ging sie grober vor, als nötig war. »Ich lass es nichts zu, dass du in Daddys Fußstapfen trittst.«
Kit wich dem Feuchttuch lange genug aus, um von ihrem Eis zu essen. »Ich finde, ich bin zu hübsch fürs Gefängnis.«
»Du hättest mich nicht einfach so wegschicken sollen.«
»Ich dachte … Vielleicht magst du einfach nicht zusehen, wenn ich Leute so bearbeite.« Kit sah zu Boden. »Na ja, vielleicht magst du diese Seite nicht an mir.«
Fancy betrachtete Kits vom Blut befreites Gesicht und stopfte das Feuchttuch zurück in die Tasche.
»Sei nicht albern, Kit. Ich mag Gewalt genauso gern wie jeder andere.« Sie dachte an die Turner-Brüder und ihr schreckliches Verhältnis zueinander und umarmte Kit fest.
»Und ich mag dich . Genau so, wie du bist.«
AUS FANCYS TRAUMTAGEBUCH:
Der pausbäckige Junge, in den ich im Kindergarten verknallt war, fragte Kit und mich, ob eine von uns sich mit ihm treffen wollte. Er sagte, ihm sei egal, welche. Wir sagten, wir würden uns beide mit ihm treffen, müssten uns aber erst noch umziehen. Also folgte er uns nach Hause und wartete, während wir reingingen und uns umzogen, aber als wir rauskamen und ihn im Garten trafen und nichts am Leib hatten außer unseren Skeletten, rannte er schreiend weg.
KAPITEL FÜNF
Die Schwestern saßen in Maddas Auto, das auf der Seventh Street vor einem der hohen, schmalen Häuser parkte, die die Straßen beim Fountain Square zierten. Es war ein weißes Haus mit Orangensorbet-Verkleidung.
Madda reckte den Hals und runzelte die Stirn. Ihre Töchter hingen jämmerlich zusammengesackt auf dem Rücksitz des Honda herum. »Worauf wartet ihr denn noch?«
»Darauf, dass du endlich Vernunft annimmst«, rief Kit weinerlich, »und uns vor diesem Scheiß rettest.«
»Das da«, sagte Madda, »ist eine nette ältere Dame namens Annice, die blind geworden ist und Hilfe braucht. Kein Scheiß.«
»Warum sollen wir die Hausarbeit für eine alte Frau machen? Unsere Hausarbeit übernimmt auch keiner!«
»Ja, genau«, stimmte Fancy zu. »Wir können doch einfach was drauflegen und ihr eine Haushaltshilfe bezahlen?«
»Hier geht’s darum, sich wie gute Nachbarn zu benehmen, und nicht Probleme mit Geld zu beseitigen.«
»Sie ist nicht meine Nachbarin.«
»Sie ist eine Mitbürgerin aus Portero, Kit, und somit bist du ihre Nachbarin. Schau!« Madda zeigte aus dem Autofenster. »Hier packen alle mit an.« Die alte Dame saß in einem Schaukelstuhl auf der vorderen Veranda, während haufenweise Leute in ihr Haus marschierten oder draußen fleißig die Blumenbeete harkten, Fensterläden strichen und Fenster putzten.
»So verhalten sich Menschen in einer Gemeinschaft«, sagte Madda und sah ihre Töchter ernst an. »Sie helfen sich gegenseitig.«
»Hilfepopilfe. Nur weil alle von der Brücke springen, heißt das nicht, dass wir …«
Maddas strenger Blick ließ Kits Gejammer verstummen und die Schwestern aus dem Wagen kriechen. Nach der Kühle in Maddas Honda war die Hitze unerträglich.
»Ich bin
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