Blutsgeschwister
Fancy fragte sich, wie jedes Mal, wenn ein Leichenwagen an ihr vorbeifuhr, wie viel so ein Wagen wohl kostete. Sie war überzeugt davon, dass es der Wahnsinn sein musste, damit herumzufahren. Lebendig natürlich, nicht tot.
Als der Trauerzug vorbei war, gingen die Schwestern weiter, und Kit sagte: »Gabriel ist süß, oder?«
»Nein.«
»Doch, Lügnerin. Und Ilan auch, irgendwie. Aber Gabriel …« Die weichen Knie aus der Küche waren noch da, grinsend wackelte Kit über den Bürgersteig.
Fancy gab ihr einen Klaps auf den Kopf und schob ihr dabei die Mütze in die Augen.
»Hey!« Kit richtete ihre Mütze und vermied es gerade so, in eine Parkuhr zu rennen.
»Jetzt dreh mal nicht gleich durch, nur weil er mit dir geflirtet hat. Unser Dad hat seinen Dad umgebracht. Das Einzige, was der Typ jemals von dir wollen könnte, ist Rache.«
Das vertrieb Kit die Albernheit, und sie war einen Moment lang still, bevor sie zugab: »Das würde ich an seiner Stelle wollen.«
»Genau!«
»Aber der Rest der Welt ist nicht wie wir, Fancy.«
»Du sagst das, als ob das was Gutes wäre. Wenigstens geben wir offen zu, dass wir die Bösen sind.«
»Offen wem gegenüber? Niemand weiß, wie wir wirklich sind. Außer Franken.«
»Ja, Kit, und der ist in unserem Keller gefesselt. Umso besser.«
AUS FANCYS TRAUMTAGEBUCH:
Ein Mann kam auf mich zu und machte ein Riesentheater, weil ich allein im Wald unterwegs war. Ich sagte ihm, dass ich nur ein Stück den Pfad runter wohnte, aber er bestand darauf, mich nach Hause zu bringen, und redete ununterbrochen über Verrückte und Serienkiller. Ich sagte ihm, dass Serienkiller charmant und attraktiv wären, nicht so wie ich. Er sagte, das sei nicht wahr, ich sei sehr hübsch, und da hab ich ihm einen Briefbeschwerer ins Gesicht geknallt. Während ich auf ihn eindrosch, sagte er mir immer wieder, wie hübsch ich sei, selbst dann noch, als ihm seine ausgeschlagenen Zähne das Sprechen schwer machten.
KAPITEL SECHS
»Ereway inhay the oneymay! Ereway inhay the oneymay!«
»Hör auf, das zu singen.« Fancy stand auf den Fahrradpedalen und versuchte vergeblich, Kits nerviger Version von »We’re in the Money« zu entkommen.
Kit jedoch hielt mühelos das Tempo. »Aber das Schweinelatein ist doch der beste Teil! Ich fand’s toll, dass Esme uns erlaubt hat, es uns im Laden anzuhören. Sonst hätte ich es nie gekauft. Ich hasse eigentlich diesen ganzen Scheiß aus der Weltwirtschaftskrise, aber hör dir mal an, was ich alles verpasst hab!«
Kit fing wieder an zu singen, und sogar die Vögel schienen von dem Lied genervt und stoben hoch über die schattige Straße.
Da Fancy den »ganzen Scheiß aus der Weltwirtschaftskrise« mochte, wäre sie normalerweise froh darüber gewesen, dass ihre Schwester nun so aufgeschlossen war, aber sie regte sich immer noch darüber auf, wie sich Kit tags zuvor den Turners gegenüber benommen hatte. Und was es sogar noch schlimmer machte: Kit hatte Madda alles genau erzählt, und die zwei hatten die ganze Zeit beim Abendessen damit verplempert, über Jungs im Allgemeinen und Gabriel im Besonderen zu reden, bis Fancy sich am liebsten ihr Trommelfell mit der Gabel zerstochen hätte.
»Wer ist Esme?«, fragte Fancy. Ihr war alles recht, was die Singerei in Zaum hielt.
»Die Frau, der der Plattenladen gehört, in dem wir seit vier Jahren einkaufen. Herrje, Fancy, achtest du denn nie auf Leute?«
»Wozu?«
»Sie sind nicht alle langweilig. Weißt du noch, das Mädchen, das wir auf dem Platz gesehen haben, das ›Heart and Soul‹ auf der Blockflöte gespielt hat? Mit ihrer Nase? Das war das Coolste und Abgefahrenste überhaupt.«
»Ich hab schon coolere und abgefahrenere Sachen gemacht. Und du auch. Weißt du noch, als du das Eichhörnchen dazu gebracht hast, seine eigene Leber zu essen?«
Kit tat das Lob ihrer Schwester unbeeindruckt ab. »Was bringt’s einem, abgefahren zu sein, wenn man damit nicht angeben kann, so wie das Blockflötenmädchen? Stell dir mich doch mal auf der Straße vor: ›Hey, Sie da, ist das Ihr Hund? Wollen Sie mal sehen, wie er seine eigene Leber isst?‹ Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir dafür jemand applaudiert.«
»Seit wann interessiert dich, was andere Leute denken?«
»Das tut es nicht«, widersprach Kit schnell. »Ich sag ja nicht, dass die Leute nicht scheiße sind. Ich sage nur, vielleicht sind sie nicht die ganze Zeit immer nur scheiße.«
Bevor Fancy widersprechen konnte, kamen die Schwestern an einem Mann
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