Blutskinder
einer Woche hatte ich schon drei Kunden. Das gab mir das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und gleichzeitig Natasha nahe zu sein.
Im Grunde genommen bin ich gar nicht übersinnlich veranlagt. Es ist mir nur gegeben, die Traurigkeit aufzuspüren, die auf dem Grunde so vieler Seelen schlummert. Und wenn man ein wenig daran zieht und zupft, geben die Menschen bald preis, was sie bedrückt.
Heute kommt Sarah zu Besuch. Sie wollte schon vor zwei Stunden da sein und ich werde langsam so kribbelig, dass es in meinen Schläfen unangenehm zu pochen anfängt.
Vielleicht hat sie ja schon ihr Kind bekommen und mir nichts davon erzählt. Das könnte ich nicht ertragen. Ich muss das kleine Ding unbedingt sehen, meine Nase an seinen weichen Hals drücken und ihm die zarten Fingernägel abknabbern, wenn sie zu lang geworden sind. »Tu mir das nicht an, Sarah!«, rufe ich und renne zwischen der Küche, wo unsere Teeplätzchen backen, und der Haustür hin und her. Immer wieder werfe ich einen Blick auf die Straße, ob sie nicht doch noch kommt.
Da fällt ein Sonnenstrahl durch die geöffnete Tür; er sieht aus wie eine Brücke zwischen meiner düsteren Behausung und dem Ort, wo Natasha und all die anderen Babys leben. Ich schaue hinauf in den Himmel und überlege, was wohl geschehen würde, wenn ich über diese Brücke ginge. Dann würde ich mein Baby wiederbekommen.
Nach einiger Zeit beschränkte sich mein Kontakt zu PC Miranda Hobbs und Detective Inspector George Lumley darauf, dass sie mich einmal im Jahr darüber informierten, was es Neues gab. Nur dass es nie etwas Neues gab. Drei Jahre nach Natashas Verschwinden wurde der Fall offiziell zu den Akten gelegt.
In gewisser Weise war mir das eine Erleichterung. Nun konnte ich nach vorne blicken und mein Baby vergessen. Keine bohrenden Fragen mehr wegen irgendwelcher Wolle und Kuchen; sie hatten endlich eingesehen, dass sie auf der falschen Spur gewesen waren. Ich versuchte, ein neues Leben anzufangen, doch die Erinnerung hing mir wie ein Klotz am Bein, der mich auf Schritt und Tritt behinderte.
Jedes Mal, wenn ich beim Einkaufen am Kindergarten vorbeikam, bildete ich mir ein, ich würde Natasha abholen. Ich stellte mir vor, wie sie auf mich zugelaufen kam, um mir das Bild zu zeigen, das sie gemalt hatte, oder das Ungeheuer, gebastelt aus leeren Pappkartons. Ich sah die Mütter dort stehen und auf ihre kleinen Lieblinge warten und dachte, was wohl geschehen würde, wenn ich einfach durch das Tor marschierte und mal nachschaute, ob nicht ein Kind übrig war. Aber das tat ich nie. Ich ging immer vorbei.
Nach meiner Scheidung von Andy, die zügig vonstattenging, zersplitterte mein Leben wie gesprungenes Glas. Jetzt hatte ich alles verloren. Ich stürzte mich in meinen neuen Beruf und schaffte mir einen Stamm fester Klienten – verzweifelte Menschen, die ihre Trauer hegten und pflegten und um keinen Preis loslassen wollten. Das war auch der Grund, warum ich so erfolgreich in diesem Geschäft war: Auch ich konnte nicht loslassen. Mühelos ertastete ich die Traurigkeit in den Seelen der anderen, zog und zupfte jedes Mal ein wenig mehr und bekam jedes Mal fünfundzwanzig Pfund dafür. Davon konnte ich die Hypothek bezahlen.
So profitierte ich vom Kummer meiner Klienten und machte mir einen Namen. Man bat mich sogar, einen Stand beim Schulfest zu übernehmen, was ich seither regelmäßig tue. Außerdem gab ich ein Interview im Lokalradio und schrieb Kolumnen für Illustrierte. Ich mache auch bei der Kneipenrunde mit, bei der Hellseher und Heiler aus der Umgebung in Pubs ihre Dienste anbieten. Zuerst stellen sich die Kunden an der Theke an und dann bei mir. Ich erzähle ihnen, was sie hören wollen, nachdem ich ihnen geschickt die erforderlichen Informationen entlockt habe. Ich weiß, ich bin eine Schwindlerin, die ein falsches Spiel mit ihnen treibt. Trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, dass eines Tages etwas geschehen wird, das mein ganzes Leben verändert. Dann werde ich nur dastehen und mit offenem Mund staunen können. So wie jetzt.
Sarah ist nicht gekommen. Als die Brücke aus Sonnenlicht hinter den gegenüberliegenden Häusern verblasst und die Plätzchen im Ofen zusammengefallen sind, ziehe ich mich um für den Abend im Pub »Zum Hirschkopf«.
Jeden ersten Samstag im Monat können die Leute für zehn Pfund eine Eintrittskarte kaufen und sich in einer Schlange anstellen, um sich die Zukunft vorhersagen zu lassen. Ich nehme mir vor, mich bei der Arbeit nicht von meinem
Weitere Kostenlose Bücher