Blutskinder
essen und nippte nur an ihrem Kaffee. Die angebotene Zigarette lehnte sie mit einem derart verächtlichen Schnauben ab, als würde sie selbst Zigarettenqualm ausstoßen.
Von dem vielen Alkohol am vergangenen Tag dröhnte Robert noch immer der Kopf, doch das war nichts gegen die Traurigkeit, die ihm förmlich das Herz zerriss.
Louisa hatte einen Stadtplan mitgebracht. »Und was ist, wenn er immer noch im Gefängnis sitzt?« Robert stand an die Motorhaube seines Wagens gelehnt, während sich Louisa auf die einzige Bank auf dem Parkplatz gesetzt hatte, und zwar so weit von Roberts Zigarettenqualm entfernt wie möglich. Robert steckte sich den letzten Bissen seines Brötchens in den Mund, bürstete sich die Krümel vom Hemd und zog noch einmal an seiner Zigarette, bevor er den Stummel wegwarf und mit dem Absatz austrat. »Hast du daran mal gedacht?«
Louisa schüttelte den Kopf. »Er ist nicht im Gefängnis.« Mit einem Blick auf die Zigarettenkippe setzte sie hinzu: »Muss das sein?« Robert beachtete die Bemerkung nicht.
»Aber du hast doch gesagt, dass er vierzehn Jahre bekommen hat.«
»Stimmt.«
»Wenn ich verspreche, nicht mehr zu rauchen, erzählst du mir dann, was du herausbekommen hast?« Wegen des grellen Lichts setzte sich Robert die Sonnenbrille auf.
»Gustaw Wystrach ist tot.« Louisa erhob sich von der Bank und zog ihre Jeans hoch. Ihr weißes T-Shirt reichte nicht ganz bis zu der Schmuckschnalle ihres Ledergürtels. »Er hat sich im Gefängnis erhängt.«
»Konntest du mir das nicht sagen, bevor wir losgefahren sind?« Robert zog eine neue Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich zwischen die Lippen.
»Du hast doch gesagt …«
»Ich habe sie ja noch nicht angezündet. Also, wen zum Teufel besuchen wir denn jetzt?«
»Keine Ahnung. Seine Mutter, Tante, Frau, Tochter – ich weiß es nicht.«
Louisa zupfte Robert die Zigarette von den Lippen und warf sie in einen Abfalleimer. Dann öffnete sie die Wagentür und stützte sich auf das Stoffverdeck des Mercedes. »Können wir nicht oben ohne fahren?« Grinsend bückte sie sich und stieg ein.
Im warmen Sommerwind fuhren sie durch die Stadt. Roberts Hände am Lenkrad wurden durch die Sonne ganz heiß, und auch sein Nasenrücken brannte schon. Wenn nicht die Sache mit Erin und Ruby gewesen wäre, hätte er den schönen, warmen Tag genossen. Nach der Karte dirigierte Louisa ihn zu einem gesichtslosen Vorort im Norden der Stadt.
»Es ist noch zwei Straßen weiter«, sagte sie und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die trostlosen Reihen der Wohnhäuser aus den sechziger Jahren. In diesem grauseligen Viertel fielen sie bestimmt auf wie ein bunter Hund, dachte Robert. »Hier links.«
Bell Grove Gardens Nummer 72 war das unansehnlichste Haus in der ganzen Straße. Die Fassade aus Waschbeton ließ vermuten, dass es im Gegensatz zu den übrigen Häusern noch immer Eigentum der Stadt war. Während die Nachbarn ihre Wohnungen mit bunten Balkonpflanzen geschmückt und Gartenzwerge und Steinfiguren in die Vorgärten gestellt hatten, wirkte Nummer 72 so schäbig und vernachlässigt, als sei es gar nicht bewohnt.
»Hübsch«, bemerkte Louisa nach einem Blick auf den abfallübersäten Vorgarten. »Soll ich hier warten?«
»Du willst dir wohl nicht die Schuhe schmutzig machen, was?«, antwortete Robert und ließ das Verdeck hochfahren. »Los, komm schon. Schließlich bist du meine Detektivin und weißt bestimmt, wie du mit den Bewohnern reden musst.«
»Meinst du?« Sie stiegen aus und überquerten die Straße.
Robert marschierte so entschlossen über den Gartenweg bis zur Haustür, als würden sich dahinter Erins sämtliche Geheimnisse verbergen, und klopfte energisch an. Da nach einer Weile noch immer niemand öffnete, traten sie durch ein kleines Tor in den unkrautüberwucherten Garten. Auf dem Nachbargrundstück balgten sich ein paar Kinder um einen Ball. Robert und Louisa gingen um einen morschen Anbau herum und stellten fest, dass die Hintertür offen stand. Aus dem Haus drang mit Knistern und Rauschen untermalte Radiomusik. Robert klopfte an die offene Tür.
»Jemand zu Hause?«
Wie aus dem Nichts stand plötzlich eine alte Frau mit einem Wäschekorb vor ihm. Ein paar Sekunden lang musterten sie einander wortlos. Robert hatte das Gefühl, einer typischen alten Ehefrau gegenüberzustehen. Sie war vermutlich schon jahrzehntelang verheiratet, und ihr Dasein erschöpfte sich darin, Wäsche aufzuhängen und tagaus, tagein Würstchen
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