Blutskinder
so als sei er mit einem Mal schwerhörig geworden.
»Nein, kennen wir nicht«, erwiderte er ein wenig zu rasch, während sich sein Gesichtsausdruck verhärtete, seine Wangen rot anliefen und ein Mundwinkel verräterisch zuckte. Mit zitternden Händen hielt Mrs Wystrach das Bild von Erin fest. Robert erinnerte sich an den Tag in Wales, als er das Foto auf der Insel Anglesey geschossen hatte. Erin legte darauf eine Hand an den Hals und strich sich mit der anderen das windzerzauste Haar aus dem Gesicht.
Mr Wystrach fuhr sich mit seinen dicken Fingern durch die spärlichen, fettigen Haarsträhnen und seufzte. »Haben Sie auch jemanden verloren?«, fragte er. Sein Akzent war jetzt nicht mehr ganz so stark, als hätte er sich wieder in der Gewalt. Aus irgendeinem Grund schien er vom eigentlichen Thema ablenken zu wollen.
»Kann sein. Ich weiß es noch nicht genau.« Robert merkte sofort, wie albern seine Antwort klang – schließlich ist jemand entweder weg oder nicht –, aber das Verhalten des Mannes hatte ihn völlig durcheinandergebracht. »Meine Frau«, fügte er noch hinzu, doch die beiden hörten nicht mehr hin. Aufgeregt flüsterte Mrs Wystrach in einer fremden Sprache mit ihrem Mann. Auf ihren Gesichtern spiegelten sich wechselnde Gefühle wider – so als wäre ihnen zumindest ein Teil einer großen Last genommen worden. Robert entschloss sich, ihnen nichts über Erin zu erzählen. Sie war schließlich immer noch seine Frau.
Endlich bekreuzigte sich Mrs Wystrach und stand auf. »Warten Sie einen Augenblick.« Lautlos ging sie auf ihren Gummisohlen aus dem Zimmer und kam bald darauf mit einem Pappkarton wieder, den sie an die Brust gepresst hielt. »Wir möchten Ihnen ein paar Sachen über Ruth zeigen.«
Sie stellte die Schachtel auf den Tisch und öffnete sie behutsam. Eine kleine Staubwolke stieg vom Deckel auf. Mrs Wystrach blätterte in den Papieren, die darin lagen, und Robert sah, dass es sich fast ausschließlich um Zeitungsausschnitte handelte. Louisa beugte sich ebenfalls vor, wobei ein Sonnenstrahl ihr Haar zum Leuchten brachte. Seite an Seite spähten sie in den Karton, offenbar mit den gleichen Gedanken beschäftigt.
»Das hier ist Ruth. Und das hier auch und das.« Aufgeregt drückte ihnen Mrs Wystrach die Zeitungsausschnitte in die Hand. Als sie sich gleichzeitig über die vergilbten Papiere beugten, vermochte Robert Louisas Anspannung zu spüren.
Von einem Foto, das offensichtlich in einer Schule aufgenommen worden war, sah ihnen ein unscheinbares Mädchen entgegen. Über dem Bild lasen sie die Schlagzeile: Schülerin verschwunden.
Robert krampfte sich das Herz zusammen. Es war Erin als Kind. Er zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass das Mädchen auf dem Zeitungsfoto seine Frau war. Was sollte er jetzt bloß tun? Die alten Leute als seine Schwiegereltern umarmen oder die Entdeckung für sich behalten, falls sie sich weiterhin so zugeknöpft gaben? Ihre ganze Haltung verriet Robert, dass sie irgendetwas vor ihm verbargen. Also musste er behutsam vorgehen. Und falls nötig, lieber noch einmal wiederkommen.
Plötzlich drängte sich ihm die Vorstellung auf, dass Erin und Ruby für immer spurlos verschwunden waren, und der Schweiß brach ihm aus. Er malte sich aus, wie er der Polizei und den Medien Fotos von den beiden aushändigte und die Menschen im ganzen Land beschwor, ihm bei der Suche nach seiner Familie zu helfen.
»Es tut mir sehr leid«, sagte er automatisch und löste den Blick von dem jungen Mädchen auf dem Foto. »Es muss sehr schlimm für Sie gewesen sein.«
Neben ihm las Louisa halblaut den Zeitungsartikel, wobei einzelne Wörter an sein Ohr drangen – Ausreißerin, entführt, Appell, Polizei …
»Sie war erst fünfzehn. Noch ein Kind.« Es schien widersinnig, doch in der Stimme der alten Frau schwang so etwas wie Hoffnung mit, als sei dieser Fremde geschickt worden, um ihren Verlust ungeschehen zu machen. »Jeder hatte sie gern.« Sie legte ihrem Mann eine abgearbeitete Hand auf den Rücken. »Unsere Familie hielt immer zusammen.«
Bei diesen Worten erhob sich Mr Wystrach und verließ abrupt den Raum. Mit einer eilig gemurmelten Entschuldigung folgte Mrs Wystrach ihm. Das gab den beiden Besuchern unverhofft die Gelegenheit, in den Zeitungsausschnitten zu kramen.
Es waren mehrere Artikel von ein und derselben Zeitung darunter; ein weiterer Ausschnitt stammte von einer überregionalen Tageszeitung. Und alle waren sie zur selben Zeit erschienen – im Januar 1992.
»Was
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