Blutskinder
mit Kartoffelbrei aufzutischen. Eines Tages würde sie dann unbeachtet und vergessen in irgendeinem Altersheim sterben. Auf ihrer Haut lag ein leichter Schweißfilm, und ihre Augen, die vermutlich einmal blau gewesen waren, wirkten ausgeblichen, so als habe sie zu viel geweint. Um die alte Frau nicht zu ängstigen, schob Robert seine Sonnenbrille hoch und fragte: »Mrs Wystrach?« Er wusste nicht, ob er den Namen richtig ausgesprochen hatte. Die Frau nickte fast unmerklich. »Hätten Sie ein paar Minuten Zeit? Ich möchte etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.« Plötzlich wirkte sie beunruhigt. Sie runzelte die Stirn und warf einen furchtsamen Blick auf Louisa, die hinter Robert stand. »Es wird Sie bestimmt interessieren«, fügte Robert hinzu, als wollte er einem Kind eine Leckerei schmackhaft machen.
»Warten Sie«, sagte sie brüsk, schloss die Tür und verschwand im Dunkel des Hauses. Gleich darauf kam sie mit einem großen, dicken älteren Mann zurück, der ebenso grimmig blickte wie sie. Er füllte die gesamte Tür aus und überragte Robert noch ein wenig, da er auf der Schwelle stand.
»Guten Tag«, sagte Robert und streckte ihm die Hand entgegen. Hinter ihm räusperte sich Louisa. »Ich bin Robert Knight und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, wenn Sie ein wenig Zeit haben.« Zögernd nahm der andere die dargebotene Hand. Sein Griff war zu kraftlos für einen so stattlichen Mann, dachte Robert. Außerdem fühlte sich seine Haut kalt und leblos an. »Dürfen wir hereinkommen?« Die beiden alten Leute musterten die Besucher noch immer wortlos. Ihre Augen huschten ständig zwischen Robert und Louisa hin und her. Die Frau hielt nach wie vor den Wäschekorb an ihre Hüfte gepresst.
Schließlich trat der Mann beiseite und bat Robert mit einem Nicken in die düstere Küche, die im Stil der 1960er Jahre möbliert war. Schließlich standen die vier um einen hellblauen Resopaltisch herum. Mrs Wystrach stellte den Korb auf den Boden und strich sich den geblümten Rock glatt. Robert betrachtete sie aufmerksam, so als stünde er im Gerichtssaal und müsste sie gleich als Zeugin ins Kreuzverhör nehmen. Er registrierte die kleinen Fusselknötchen auf ihrem grauen kurzärmeligen Pullover, den blassen Fleck auf ihrer Schürze, das im Nacken zusammengebundene gelblich-graue Haar und die bräunlichen Altersflecken auf ihren Wangen, die aussahen, als hätte ihr jemand Tee ins Gesicht gespritzt. Krampfhaft suchte er nach einer Spur von Ähnlichkeit mit Erin und Ruby, nach einem Zugang zu der geheimnisvollen Vergangenheit seiner Frau.
Doch die Frau vor ihm erinnerte ihn an nichts und niemanden.
»Sind Sie von der Polizei?« Der Mann sprach mit einem starken Akzent.
»Aber nein. Ich wollte Ihnen nur etwas zeigen.« Robert öffnete die linke Hand, in der er das Medaillon hielt. Sein Anblick hatte eine bemerkenswerte Wirkung auf das alte Paar. Die Frau schnappte nach Luft und tastete haltsuchend nach der Stuhllehne. Der Mann sagte kein Wort, schluckte aber mehrmals hintereinander. Sein Nacken wurde ganz steif und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Auf seiner bleichen Glatze bildeten sich Schweißperlen.
»Erkennen Sie es wieder?« Schon während er die Frage stellte, kannte Robert die Antwort. Sein Herz begann vor Aufregung schneller zu pochen, aber er rief sich selbst zur Ordnung. Selbst wenn die alten Leute das Medaillon kannten, musste es noch lange nichts mit Erin zu tun haben.
»Edyta«, flüsterte die Frau, als wollte sie die Geister der Vergangenheit heraufbeschwören.
Als Robert den Deckel hochklappte und das Foto sichtbar wurde, schlug die Frau eine Hand vor den Mund und bekreuzigte sich mit der anderen. Der Mann wandte sich mit einem unterdrückten Stöhnen ab, doch Robert sah, wie die Adern am Hals des Alten unvermittelt hervortraten.
»Mr Wystrach?« Robert nahm an, dass das sein Name war. »Kennen Sie die Frau auf dem Bild?«
Wortlos schaltete der Angesprochene das Radio aus.
»Sicher kennt er sie.« Die alte Frau trat einen Schritt näher und wischte sich rasch mit einem Finger über die Wange. »Es ist seine Mutter, Edyta Wystrach. Sie lebt nicht mehr.«
»Das tut mir leid.«
»Sie war schon alt und …«
»Wo haben Sie das her?«, rief der Mann wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein Akzent war jetzt so stark, dass er kaum zu verstehen war.
»Ich wollte Sie nicht beunruhigen.« Robert wich ein wenig zurück. »Ich wusste nicht, dass Ihre Mutter verstorben ist.«
»Es hat
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