Blutskinder
dem Tod braucht man wirklich keine Angst zu haben. Aber schauen wir uns mal das hier an. Der Narr zeigt, wo du im Augenblick in deinem Leben stehst. Und siehst du, er liegt verkehrt herum.« Ich beobachte Sarahs Reaktionen. Jedes noch so kleine Zucken, jede winzige Bewegung ihres Kopfes oder ihrer Hände kann mir einen Hinweis geben. Mit großen Augen rutscht sie bis zur Kante ihres Sessels.
»Das bedeutet, du steckst in der Klemme.« Wie erwartet, reagiert Sarah sofort darauf. Ich bin auf der richtigen Spur.
»Das kann man wohl sagen!« Wie jemand, der seinen Mantel ablegt, verliert ihr Gesicht den argwöhnischen Ausdruck und sie trinkt zum ersten Mal einen Schluck Tee. Offensichtlich fasst sie langsam Vertrauen zu mir.
»Ich sehe eine Menge Sorgen, Sarah. Du bist erst fünfzehn und schon in schrecklichen Schwierigkeiten.« Wie ich mich selbst dafür hasse! Ich beschäftige mich wieder mit den Karten, weil ich den staunenden Blick aus ihren Zimtaugen nicht ertragen kann.
»Wann wird das Kind zur Welt kommen?« Um diese Frage zu beantworten, muss man nur ein bisschen rechnen. Ich starre weiter auf die Karten und wünschte, sie wäre zu ihrem Hausarzt gegangen.
»Ich sehe, dass du viel durchgemacht hast.« Das hat sie mir ja schon verraten. »Viel Kummer und Schmerz. Du hattest wirklich ein trauriges Leben, Sarah.« Damit fische ich ein bisschen im Trüben, weil ich nicht so recht weiterweiß, aber sie beißt sofort an.
»Seit ich auf der Welt bin! Sagen Sie mir, wann hat das endlich ein Ende? Werde ich jemals glücklich sein?«
»Aber sicher«, antworte ich und überlege dabei, ob das wohl stimmt. »Dein Baby wird dir viel Freude bereiten, und wenn dein Vater erst einmal sieht, was für ein schönes Kind du der Familie geschenkt hast, wird sein Zorn verrauchen.« Noch nie zuvor habe ich einem Kind die Zukunft vorhergesagt, einem Menschen, vor dem noch so viel unbeschriebene Lebenszeit lag. »Und außerdem ist die Kraft auf deiner Seite. Das zeigen die Karten ganz eindeutig.«
»Tatsächlich?« Sie trinkt noch etwas Tee.
In den folgenden vierzig Minuten spreche ich viel von Sarahs guten Eigenschaften und gebe ihr Ratschläge, was sie ihrem Vater und ihrem Freund sagen und wie sie während der Geburt atmen soll. Und das alles, ohne einmal auf die Karten zu schauen. Es ist ein Gespräch zwischen einer Frau und einem jungen Mädchen. Zwischen Mutter und Tochter. Am liebsten hätte ich sie gebeten, mir das Baby nach der Geburt zu überlassen. Ich kann mich gerade noch beherrschen.
Nachdem ich die Bevölkerung von Großbritannien angefleht hatte, die Augen offen zu halten und mir bei der Suche nach meinem Baby zu helfen, erzählte ich von meiner Dummheit und Nachlässigkeit und warnte alle Mütter davor, ihre Kinder auch nur eine einzige Sekunde lang unbeaufsichtigt im Auto zu lassen. Dann lieferte ich eine eingehende Beschreibung von Natasha bis hin zu ihren winzigen Fingernägeln und der kleinen hellrosa Zunge. Und schließlich, als das alles gesagt war, wandte ich mich unmittelbar an den Entführer meiner Tochter. Jetzt gab es nur noch ihn und mich – mit Hilfe der Kameras standen wir uns sozusagen Auge in Auge gegenüber. Es führte kein Weg daran vorbei.
DI Lumley fasste mich am Ellbogen und öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen. Doch dann überlegte er es sich anders. Er trat einen Schritt zurück, blieb ganz still neben mir stehen und ließ mir freie Hand, obwohl ich seinen Entwurf weggeworfen hatte. Da wusste ich, dass er doch ein Herz besaß. Ich starrte in die BBC-Kameras und holte tief Luft.
»Als Sie meinem Baby zum ersten Mal begegnet sind – ihr Name ist übrigens Natasha Jane Varney –, hat ihr Schlafanzug vielleicht noch ein wenig nach mir gerochen, nach meinem Parfum oder meinem Shampoo oder nach dem Waschpulver, das ich immer benutze. Was mir nicht aus dem Kopf geht, ist, dass sie jetzt nach Ihnen riecht. Wenn ich mein Baby zurückbekomme, wird sie Ihren Geruch an sich tragen. Was mir auch noch Sorgen macht, ist, dass eines von Natashas Füßchen kalt werden könnte, weil ich doch einen ihrer Schuhe gefunden habe. Und außerdem habe ich Angst, dass Sie sie nach dem Essen kein Bäuerchen machen lassen.« Ich weiß wirklich nicht, wie ich es fertigbrachte, an dieser Stelle ein wenig zu lachen. »Das heißt, falls Sie ihr überhaupt etwas zu essen geben. Auf jeden Fall sollen Sie wissen, dass sie sechsmal in vierundzwanzig Stunden gefüttert werden muss. Aber weil ich sie immer gestillt
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