Blutskinder
habe, wird es vielleicht schwierig werden, sie an die Flasche zu gewöhnen. Sie sollen auch wissen, dass sie es mag, wenn man sie sich an die Schulter legt und ihr sachte auf den Rücken klopft. Am friedlichsten ist sie im Kinderwagen – ich nehme mal an, dass Sie sich einen anschaffen –, aber wenn es kalt ist, packen Sie sie bitte gut ein. Normalerweise wird Natasha etwa neun- bis zehnmal pro Nacht wach. Sie hat noch nie richtig durchgeschlafen. Das heißt, am Tag schon. Aber dann müssen Sie ja auch Ihren Schlaf nachholen …« Ich spürte eine Hand auf meinem Arm. »Sie könnten ja eine Sozialarbeiterin anrufen, aber die hat möglicherweise keine Zeit …«
Die Hand greift nach meinem Ellbogen und versucht, mich wieder auf den Stuhl zu ziehen, aber jetzt, da endlich alle zuhören, gibt es für mich kein Halten mehr. »Und wenn Sie wirklich fix und fertig sind, können Sie sie immer noch im Auto lassen und in den Supermarkt gehen.« Ich mache eine Pause und starre an die Decke, um die Tränen zurückzuhalten. »Dann kommt vielleicht jemand und stiehlt sie Ihnen.«
Ich habe einen Kloß im Hals. Deshalb muss ich ständig schlucken und kann nicht mehr weitersprechen. Als dann endgültig die Tränen fließen, klicken die Auslöser wie verrückt. Als Andy mir den Arm um die Taille legt, ruft einer: »So ist’s gut, stellen Sie sich dicht neben Ihre Frau, Mr Varney!« Noch mehr Geklicke und so viele Blitzlichter, dass ich ganz geblendet bin und mir blaue Fünkchen vor den Augen tanzen. Es ist, als würde ich durch den Weltraum wirbeln.
Allmählich wird es wieder still im Raum. Ich schließe die Augen und lehne mich gegen Andy. Fragen prasseln auf mich ein, aber ich kann nicht antworten. Noch immer tanzen die blauen Fünkchen um mich herum – ob Natasha auch so ein Funkeln gesehen hat, wenn sie auf das Glasmobile über ihrem Bettchen schaute?
Jetzt rase ich auf das Zentrum des Sternenwirbels zu. Hier gibt es keinen Schmerz mehr, nur schwarze Leere. Und mitten im Nichts sehe ich auf einmal Natasha. Sie trägt ihre hübschen Babysachen, gurgelt fröhlich und weint kein bisschen. Sie wartet auf mich. Ich strecke die Arme nach meinem Baby aus und bitte es, mir zu verzeihen.
Eigentlich wäre es für Sarah Zeit zu gehen, aber sie hat offenbar keine Lust dazu. Da nutzt es auch nichts, dass ich auf die Uhr schaue und die leeren Tassen aufs Tablett stelle. Ich sollte ihr einfach sagen, dass die Sitzung zu Ende ist und ich fünfundzwanzig Pfund von ihr bekomme, aber das bringe ich nicht übers Herz. Und außerdem hat sie ein Baby in ihrem Bauch. Eines, das vielleicht niemand haben will.
»Heute kommen keine Klienten mehr. Du kannst also hierbleiben und mir Gesellschaft leisten, wenn du willst.« Kann sein, dass ich mich schäme, weil ich ihre Zukunft nicht wirklich voraussagen konnte. Vielleicht ist mir auch einfach nach ein bisschen Reden. Auf jeden Fall wundere ich mich, dass Sarah mir mein schlechtes Gewissen nicht ansieht. Aber sie nimmt mein Angebot ohne Zögern an.
»Gut. Aber nur eine Stunde oder so, weil mein Vater und meine Brüder um sechs ihr Essen bekommen und ich noch nichts gekocht habe.«
Etwas in ihrem Ton verrät mir, dass sie sich in ihr Schicksal gefügt hat. Auch sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie durch ihre Geburt ihre Mutter getötet hat und weil sie ein Kind erwartet, wo sie doch selbst noch eines ist.
»Was ist mit deinen Schulaufgaben?« Ich nehme das Tablett und bitte sie, mit in die Küche zu kommen. In einer Küche lässt es sich immer gut reden. Vielleicht sollte ich ja mit allen meinen Klienten in die Küche gehen. Ich stelle das Geschirr ins Spülbecken und ziehe mir die Gummihandschuhe an. Sarah sitzt am Tisch. Sie wirkt jetzt viel gelöster.
»Mit dem Lernen habe ich mir nie viel Mühe gegeben. Seit ich klein war, hat mein Vater immer wieder gesagt, wie glücklich ich sein werde, wenn ich erst mal verheiratet bin, und wie gut ich dann im Leben dastehen würde.« Sarah verzieht das Gesicht. »Aber jetzt, wo ich bald eine alleinerziehende Mutter bin, ist die Schule auf einmal wichtig. Ich brauche doch einen Job!«
Sie legt sich die Hände auf den Bauch und für einen Augenblick kommen ihre nervösen Finger zur Ruhe. Als ich sehe, wie sich ihre Strickjacke über der Schwellung spannt, bekomme ich unwiderstehliche Lust, noch einmal ihren festen, straffen Bauch anzufassen und vielleicht den Stoß eines kleinen Ellbogens oder Fußes zu spüren. »Ich glaube aber kaum, dass mir
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