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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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sie immer nervös, bis sie merken, dass es nicht wehtut und dass ich mit meinen Voraussagen meistens richtig liege. Aber ich überlege mir sehr genau, was ich ihnen erzähle. Schließlich trage ich eine große Verantwortung, und wenn ich zu viel sage, könnte sogar die kosmische Ordnung irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten.
    »Also, wie heißt du wirklich?«, frage ich und füge hinzu: »Tee?« Zwei Fragen auf einmal scheinen das Mädchen zu überfordern; es schweigt. Ich gieße ihr trotzdem eine Tasse ein. Erst nachdem ich selbst ein paar Schluck Tee und einen halben Verdauungsschnaps getrunken habe, sagt sie: »Wenn Sie wirklich so gut wären, wüssten Sie es doch.«
    Ihre kugelrunden zimtbraunen Augen sind glanzlos. Sie hat Sorgen. Das hat sie mir schon am Telefon verraten und außerdem gilt es für die meisten meiner Klienten. »Du vergeudest deine Sitzung, wenn du mich raten lässt.«
    »Nennen Sie mich einfach Sarah.« Sarah senkt den Kopf und faltet die Hände im Schoß. Auf ihren Handrücken sind Spuren von hübschen Henna-Tattoos. Sie trägt kirschroten Nagellack.
    »Was möchtest du also wissen, Sarah?« Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich benutzen soll. Tarot? Die Kristallkugel? Was passt zu ihr? Vielleicht nehme ich ja die Runen oder werfe mal einen Blick auf ihre Handlinien.
    Bewegungslos sitzt sie da und starrt auf ihre Hände. Ihr langes dunkles Haar fällt ihr ins Gesicht. Nach ungefähr vier oder fünf Minuten hebt sie mühsam den Kopf, als zöge ein Gewicht ihn nach unten, und schaut mich mit ihren riesigen Augen an.
    »Ich bin schwanger und möchte wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, weil, wenn es ein Junge wird, bringt mich mein Vater vielleicht nicht um.« Sie ist vom Reden ganz außer Atem und holt tief Luft. »Dann wird er mich hassen, aber nicht umbringen.«
    Das Thema ist kein Problem für mich. Ich habe mich daran gewöhnt, über Babys zu sprechen. Immerhin ist es dreizehn Jahre her. Das Leben geht weiter. Seither sind schon viele Frauen schwanger geworden und außer meinem sind noch andere Babys gestorben. Ich bin schon lange nicht mehr das Tagesgespräch.
    »Dann wird es ein Junge«, sage ich. Ich atme ebenfalls tief durch, denn diesmal muss ich Therapeutin und nicht Medium spielen. Das ist etwas Neues für mich. Verflixte Sarah. »Weiß deine Mutter Bescheid?«
    Erneut lässt Sarah den Kopf hängen. »Sie ist tot.«
    »Dann wollen wir sie doch mal fragen, was sie von der ganzen Sache hält.«
    »Nein, nein!« Sarah rutscht vom Sessel, fällt auf die Knie und bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen. »Diese Schande, diese Schande!«, jammert sie immer wieder.
    »Aber wenn sie doch tot ist …« Dann ist es doch egal, will ich gerade sagen. Aber für Sarah ist es natürlich nicht egal. Ihre Mutter ist tot, und sie ist schwanger.
    »Wie alt bist du?«
    »Fünfzehn.«
    Zwei Jahre älter als Natasha.
    »Wann ist deine Mutter gestorben?«
    »Bei meiner Geburt.« Sarah wischt sich mit dem Ärmel die Tränen ab und setzt sich wieder hin. »Warum fragen Sie mich das alles? Das müssten Sie doch wissen. Oder sind Sie etwa eine Schwindlerin?«
    »Ich weiß nur, was sich mir zeigt, Sarah.« Jetzt lasse ich mich vor ihr auf die Knie sinken, nehme ihre linke Hand und drehe sie mit der Innenseite nach oben. Sie hat sechs Kinderlinien, drei davon ausgezackt und unterbrochen. Ich fasse mir ein Herz und lege eine Hand auf ihren Bauch. Ich spüre, dass sie wahrscheinlich schon im sechsten Monat ist. Bei ihrem schlanken, jungen Körper ist die Schwellung nicht sehr stark ausgeprägt und lässt sich leicht unter weiten Sommersachen verstecken.
    »Es ist ganz bestimmt ein Junge.« Angesichts der Erleichterung auf Sarahs Gesicht muss ich mich abwenden.
    »Wirklich?« Sie hält sich mit beiden Händen den Bauch und lächelt. »Wenn ich Vater sage, dass ich das Baby nach ihm nennen will, wird er mir vielleicht irgendwann verzeihen. Aber ich werde nicht Farhad heiraten können, so wie Vater es geplant hat. Jetzt will mich bestimmt kein Junge mehr haben.«
    Ich hole meine Tarotkarten, mische sie und halte sie Sarah hin. »Heb ab.« Wenn diese Therapiesitzung doch bloß schon zu Ende wäre! Als sie abgehoben hat, lege ich fünf Karten in Kreuzform neben dem Teetablett aus. Der Tod, der Narr, der Prinz der Kelche, die drei Schwerter und die Kraft. Auch ohne die Karten kommt mir plötzlich die Erleuchtung.
    »Du liebst ihn, stimmt’s?«
    Sarah nickt mit niedergeschlagenen Augen.
    »Aber er ist

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