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Blutspuren

Blutspuren

Titel: Blutspuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Girod
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das heißt ein mehr als zwölfjähriges Leben hinter Gittern, für sich verbuchen.
    Am 13. März 1972 öffnen sich für Hermann Vašik die schweren Tore der berüchtigten Strafvollzugseinrichtung Bautzen, vom Volksmund das »gelbe Elend« genannt. Zweieinhalb Jahre mußte er wegen des letzten Einbruchs absitzen.
    Jetzt macht er sich auf den Weg nach Pößneck, denn die Anstaltsleitung hat ihm aufgetragen, sich umgehend bei der dortigen Abteilung Inneres zu melden. Ohne sichtbares Widerstreben befolgt er die Anordnung und demonstriert, um nicht aufzufallen, erforderliche Anpassung. Die ernst dreinblickenden Damen und Herren der Wiedereingliederungskommission bieten ihm ein schlichtes Zimmer zur Untermiete an und weisen ihm einen Arbeitsplatz in der Schokoladenfabrik zu, erteilen strenge Bewährungsauflagen und drohen mit erneuter Inhaftierung, falls er sich der Arbeit entziehe oder gegen die Auflagen verstoße. Zunächst macht Vašik aus seiner Aversion gegen geregelte Arbeit und vermeintliche soziale Zwänge keinen Hehl, wünscht, man möge ihn wieder dorthin bringen, wo er gerade hergekommen sei. Man diskutiert mit ihm, bis er schließlich gelobt, sich an die Maßregeln zu halten, lehnt aber das Angebot des Untermieterzimmers dankend ab, weil er lieber bei seinem Vater wohnen möchte. »Gut, wir sind ja keine Unmenschen«, meinen die Funktionäre und sind einverstanden.
    Doch in Vašiks Kopf geht anderes vor. Er beabsichtigt keineswegs, sich an die aufgezwungene Abmachung zu halten. Zwar meldet er sich bei seinem alten Vater, der vergeblich versucht, ihn zu regelmäßiger Arbeit an- und von weiteren Einbrüchen abzuhalten, bleibt aber nur kurze Zeit bei ihm. Eines Morgens verschwindet er unbemerkt. Wohin er will, weiß er nicht. Erst einmal untertauchen, dann weitersehen, ist seine ständige Devise. Tagsüber taucht er in der Anonymität verschiedener Städte unter, stiehlt, was nicht niet- und nagelfest ist. Er begeht Einbrüche, und die jeden zweiten Tag. Bevorzugte Beute: Bargeld. Doch auch anderes Brauchbares läßt er mitgehen, setzt es in vermieften Kneipen bei zwielichtigen Gestalten um. Der Ertrag ist mitunter so groß, daß er nobel tafeln, neue Bekleidung und Tickets für die Bahn kaufen kann. Die Nächte verbringt er entweder auf Parkbänken, in Bahnhofsgaststätten, in Abrißgrundstücken, Lauben, Baubuden oder, falls die Witterung es zuläßt, auf Wiesen, in Getreidefeldern und Scheunen. Manchmal bieten ihm Frauen mit horizontaler Nebenbeschäftigung Körper und Logis an. Dann benutzt er falsche Namen und phantasiereiche Legenden. Ansonsten bleibt er lieber im Verborgenen, vermeidet nähere Kontakte zu anderen.
    Ungeordnete Gedanken, in den Westen abzuhauen, beschäftigen ihn zwar immer wieder, doch nehmen sie angesichts des hohen Risikos erwischt oder erschossen zu werden, keine konkreten Formen an. So streunt Hermann Vašik wochenlang durch verschiedene DDR-Bezirke. Größere Ortswechsel nimmt er mit der Bahn vor. Auf diese Weise erreicht er am Sonntag, dem 9. Juli 1972, den Hauptbahnhof in Leipzig.
    Es ist jener sonnenreiche Tag, den Manuela und Karsten Teige mit ihren beiden Kindern im Strandbad Auensee verbringen.
    Vašik läuft zunächst ziellos durch die große Stadt, besucht im Kino »Capitol« gleich zwei Filmveranstaltungen hintereinander und hält sich danach bis zum Abend im Zoo auf. Wieder streift er unstet durch die Straßen. Als die Dämmerung hereinbricht, erreicht er zufällig die Saefkow-Straße. Auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz fällt sein prüfender Blick auf die umliegenden Grundstücke. Dabei richtet sich sein Interesse auf ein zweistöckiges Haus mit großem Garten. Und in diesem Garten steht an lauschigem Plätzchen eine mit einer Plane überdeckte Hollywoodschaukel. Das ist’s, dort will er übernachten. Nun heißt es warten, bis es gänzlich dunkel ist. Von Ferne Donnergrollen. Ein Gewitter kündigt sich an. Als die Lichter im Haus längst verloschen sind, klettert er behende über den Zaun und schleicht bis an den ausgewählten Ort. Da ringsum Stille ist und Dunkelheit, macht er es sich bequem. Er öffnet eine Konservendose mit Jägerhackbraten, futtert sie leer und wirft sie in hohem Bogen in die Büsche. Eine Handvoll Bonbons, die er bei seinem letzten Einbruch so nebenbei mitgehen ließ, bilden eine Art Nachtisch. Bald darauf meldet sich sein Bauch. Nur wenige Schritte weiter läßt er seinem natürlichen Bedürfnis freien Lauf.
    Es beginnt zu regnen, erst

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