Blutspuren
auf seine eigene, schäbige Art. Was morgen sein wird, bewegt ihn heute nicht. Und alle weiteren Überlegungen enden in dem absonderlichen Trost, daß letzten Endes immer noch die Möglichkeit einer Selbsttötung bleibt. Das alles macht ihn zu einem Menschen, dessen Gefährlichkeit nun um ein Vielfaches angewachsen ist.
Vašik streunt wie ein hungriger, scheuer Wolf durch die Großstadt, verbringt die Nächte auf Parkbänken, in Wartehäuschen oder Gartenlauben, nutzt jede sich bietende Gelegenheit zu Diebstählen und Einbrüchen, fast jeden Tag. Dabei geht er immer dreister vor: Auf offener Straße fordert er von zwei älteren Damen die Herausgabe des Inhalts ihrer Handtaschen, in dem er sie mit den Worten, ein gesuchter Mörder zu sein, einschüchtert.
Erst die Verhaftung am 23. Juli 1972 beendet seine kriminelle Wanderschaft.
Die Ermittlungen gegen Hermann Vašik dauern bis Anfang September 1972. Dann endlich können Hauptmann Vietzke und Unterleutnant Striebl den Schlußbericht schreiben und die Akte zur Anklageerhebung an den Staatsanwalt übergeben.
Ein notweniger Nachsatz: Schluderhafte Polizeiarbeit in der Phase des ersten Angriffs – übrigens auch heutzutage häufige Praxis, die eine nachfolgende spezialisierte kriminalistische Tätigkeit erheblich beeinträchtigt – führte im geschilderten Fall erst nach 13 Tagen dazu, den Mörder dingfest zu machen. Dieser zeitliche Vorsprung erscheint auf den ersten Blick unbedeutend, aber schließlich ermöglichte er dem Mörder die Begehung weiterer zehn dreister Einbruchsdiebstähle und einer räuberischen Erpressung. Die Gewißheit, für das von ihm verübte Tötungsdelikt bereits lebenslänglich hinter schwedische Gardinen zu müssen, hat unbemerkt seine Risikobereitschaft gefährlich erhöht, denn er wollte, so lange es eben ging, sein kümmerliches Vagabundenleben in Freiheit fortsetzen. Nur glücklichen Umständen war es zu verdanken, daß Vašiks Selbstschutzpotential nicht herausgefordert wurde und er keinen weiteren Mord beging.
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Bruderliebe – Bruderhaß
(Aktenzeichen 131-60/79 Bezirksstaatsanwalt Erfurt Tagebuchnummer 1942/79 VPKA Erfurt)
Erfurt, Mittwoch, 23. Mai 1979, vormittags. Obwohl der Sommer dem Kalender nach erst einen Monat später beginnt, liegt bereits eine ungewöhnliche Wärme über der Bezirksstadt. Ein gelbgrüner Funkstreifenwagen der VP fährt in Richtung Bahnhof Nord, biegt von der Karl-Marx-Allee in die Spittelgartenstraße ab und stoppt vor dem Haus Nr. 11. Zwei Uniformierte steigen aus dem Fahrzeug. Eine ältere Frau, die bereits vor der Haustür wartet, geht schnurstracks auf sie zu. Sie will etwas sagen, doch einer der Männer fragt gleich: »Sind Sie die Anruferin?«
Die Frau nickt bejahend, weist auf die Fenster des Dachgeschosses und sagt: »Da oben, wo der Huck wohnt, da muß es sein!« Dann geht sie zurück zum Haus, die Ordnungshüter folgen ihr.
Bereits im Erdgeschoß riecht es streng und übel. Die Polizisten verziehen angewidert ihre Gesichter, steigen aber zielstrebig die Stufen empor, während die Frau in respektvollem Abstand hinter ihnen bleibt. Im Dachgeschoß herrscht ein nahezu unerträglicher käsig-süßlicher Gestank. Er scheint durch die Türritzen der Wohnung mit dem Namensschild »H.-W. Huck« ins Treppenhaus zu dringen. Die Polizisten blicken sich vielsagend an. Einer pocht kräftig an die Wohnungstür.
»Hat keinen Zweck«, bremst ihn die Hausbewohnerin, »den Huck habe ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen.«
»Wohnt er allein?« fragt einer der Polizisten.
Die Frau sichert sich durch einen Kontrollblick ab, daß niemand anders zuhört und grient: »Ja, woher soll er denn ’ne Frau haben, wo er doch vor kurzem erst aus dem Knast ist.«
Wieder verständigen sich die Polizisten durch einen Blick. Einer verläßt die Szene, die Frau aus dem Haus im Schlepptau, der andere bleibt auf dem Treppenpodest zurück.
Unter den aufmerksamen Augen der Staatsmacht öffnet bald darauf ein Schlosser mit wenigen Handgriffen die mehrfach verschlossene Wohnungstür. Der sich nun um so mehr ausbreitende Gestank verschlägt ihm derart den Atem, daß er schnell wieder verschwindet. Die Uniformierten betreten behutsam die Wohnung: Spärliches Inventar, das den Charme der 60er Jahre ausstrahlt. Junggesellenhafte Tristesse. In einer Ecke des Korridors viele leere Bier- und Schnapsflaschen, die stummen Zeugen einer leberschädigenden
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