Blutspuren
Leidenschaft.
Die Polizisten betreten das Wohnzimmer: Mitten im Raum ein antiquierter stromfressender Heizkörper, ein Paar ausgelatschte Sportschuhe. Auf dem Couchtisch Relikte eines kargen Mahls. Ein übervoller Aschenbecher, Zigaretten, Streichhölzer. Auf der Sitzfläche eines der beiden Sessel Hose, Hemd und Jacke, wie achtlos hingeworfen. In der Jackentasche Personalausweis, Betriebsausweis des VEB Kombinat für Umformtechnik »Herbert Warnke«, Fahrerlaubnis auf den Namen »Hans-Werner Huck, geboren 17.4.1951«, eine Geldbörse mit 60 Mark Bargeld. Insgesamt nichts Auffälliges.
Die Männer werfen einen Blick in die Küche: Speisereste, verschmutztes Geschirr, auf dem Tisch Zeitungen und Wohnungsschlüssel. Alles erscheint normal.
Im Schlafzimmer jedoch stoßen sie auf die Ursache des widerwärtigen Geruchs: An der rechten Wand steht ein Bett, daneben ein Nachttisch. Links neben dem Nachttisch, mit dem Rücken zur Fensterfront, sitzt auf dem Dielenfußboden der Leichnam eines offenkundig großen, massigen und kraftstrotzenden Mannes. Ein etwa ein Meter langer und fünf Millimeter dicker Strick umschnürt fest seinen Hals. Das Ende des straffen Strangs ist am oberen Fensterwirbel fixiert. Der Leichnam befindet sich im Zustand beginnender Schwarzfäule …
Mit dieser Inaugenscheinnahme endet die Zuständigkeit der beiden Uniformierten. Sie erstatten der Einsatzzentrale des VPKA, also des Volkspolizeikreisamtes, Meldung und beschränken sich bis zum Eintreffen eines Arztes und des zuständigen Leichensachbearbeiters der Kriminalpolizei auf die Sicherung der Wohnung.
Der Arzt untersucht den Leichnam, während der Kriminalist Wohn- und Schlafzimmer durchstöbert. Einzige Auffälligkeit ist ein unter dem Kopfkissen im Bett liegendes braunes, leeres 50-ml-Fläschchen mit aufgeklebtem Etikett »Erfurter Apotheke, 6.4.1979, Äther DAB 7, kühl aufzubewahren. Feuergefährlich«. Der merkwürdige Fund veranlaßt den Polizisten nur zu einem Gedanken: Mit 50 ml Äther läßt sich nichts anfangen! Viel wichtiger für ihn ist die Tatsache, daß außer der Strangulation keine weitere Gewalteinwirkung am Körper des Toten festzustellen ist.
»Sieht aus wie Selbstmord. Atypisches Erhängen. Kein Wunder, bei dem Körpergewicht. Die Sterbezeit muß mehrere Wochen zurückliegen«, teilt der Arzt dem Kriminalisten mit und ergänzt, »erstaunlich, daß sich noch keine Fliegen eingenistet haben!«
»Die Wohnung war ordnungsgemäß verschlossen, kein Hinweis auf fremde Gewalt. Da können wir ja auf eine Sektion verzichten«, resümiert der Kriminalist.
Eine Stunde später findet der Tote im Kühlraum des Hauptfriedhofs seine vorletzte Ruhe, denn eine Bestattung ist erst nach der Freigabe möglich. Doch der zuständige Kreisstaatsanwalt zögert. Er fordert weitere Ermittlungen, will wissen, warum keine Vermißtenanzeige erstattet wurde, welches Motiv den Suizid tatsächlich ausgelöst hat und wie die Sterbezeit weiter eingegrenzt werden kann. Eine Gerichtssektion hält er allerdings für nicht erforderlich.
Die Mutter des Verstorbenen, Elisabeth Huck (48), eine einfache, rechtschaffene, spindeldürre und verhärmte Frau, die sich als Pförtnerin verdingt und im Stadtteil Ilversgehoven wohnt, nimmt die Mitteilung über den Tod ihres Ältesten gefaßt, nahezu ohne sichtbare Regung zur Kenntnis. Da seine Saufexzesse, Schlägereien und Diebstähle die Beziehung zu ihm ziemlich unterkühlt hätten, sei es ihr ziemlich gleichgültig gewesen, den Sohn mehrere Wochen lang nicht gesehen zu haben. Außerdem habe ihr jüngster Sohn Peter angedeutet, Hans-Werner könne sich auf einem heimlichen Weg in den Westen befinden.
Der Bruder des Toten wird befragt. Es ist Peter Huck (26), ebenso von bulliger Statur, aber mit Bierbauch, der mit Frau und Kind einen Steinwurf weiter in der Karl-Marx-Allee wohnt. Er habe Hans-Werner seit dem 6. April zwar nicht mehr gesehen, eine Vermißtenmeldung aber deshalb nicht aufgegeben, um bei der Polizei keine unnötige Aufmerksamkeit zu erwecken. Er wäre bisher der Annahme gewesen, Hans-Werner sei illegal in den Westen gegangen. Sein Bruder, mit dem ihn im übrigen ein inniges Verhältnis verbände, habe ihm nämlich vor einiger Zeit anvertraut, mit Leuten zusammengekommen zu sein, die ihn für einige tausend Mark in den Westen schleusen würden. Die einengenden Verhältnisse in der DDR stünden ihm schon lange bis zu Halse, er wolle lieber ein freier Mensch sein, und das gelänge ihm nur in der BRD. Dort
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