Blutspuren
zaghaft, dann immer heftiger. Vašik kriecht unter die schützende Abdeckung der Schaukel, richtet sich für die Nacht ein. Er hat vor, mit dem ersten Zwitschern der Amseln aufzubrechen. Doch der Regen prasselt unaufhörlich gegen die Plane, erzeugt ein gleichmäßiges Geräusch mit ermüdender Wirkung, und bald schläft der Mann ruhig und fest wie ein unschuldiges Kind.
Er erwacht viel zu spät. Längst hat der Regen aufgehört. Die Sonne scheint wie am gestrigen Tag. Unmöglich, das Versteck unbemerkt zu verlassen. Nahe Stimmen sind zu hören. Durch einen Schlitz in der Plane sondiert er vorsichtig die Lage, erspäht nicht weit entfernt Menschen auf der Terasse des Hauses: Eine Frau und zwei Kinder, ein etwa zehnjähriger Junge und ein jüngeres Mädchen. Sie frühstücken. Mucksmäuschenstill verharrt Vašik in der Deckung.
Minuten später: Bewegung auf der Terasse. Das Frühstück scheint beendet zu sein, Geschirr klappert. Er lugt durch den Schlitz: Die Frau räumt den Tisch ab. Weiteres Warten, unentwegt das Haus im Visier. Wiederum erscheint die Frau. Sie bugsiert ein Fahrrad in den Keller, kehrt ins Haus zurück. Einige Zeit später: Sie verläßt mit dem Mädchen das Haus, verriegelt die Gartenpforte und verschwindet. Vašik schießt durch den Kopf: Jetzt ist das Haus leer, beste Gelegenheit zum Einsteigen. Ich muß die Kleidung wechseln, brauche Geld. Dort an dem angelehnten Fenster an der Terasse ist es am leichtesten.
Flugs ist er am Fenster, kriecht durch die Öffnung. Im Haus ist es still. Er blickt sich in verschiedenen Räumen um, denkt: Eine ordentliche Wohnung, hier ist Wohlstand! Blitzschnell plant er sein Vorgehen. Augenblicke später, wieder im Korridor, will er nun die Treppe empor zum Schlafzimmer. Da passiert es! Eine Tür öffnet sich. Vor ihm steht ein kleiner Junge, bekleidet mit beigefarbenen Shorts, Furcht in den Augen. Vašik ist über das unerwartete Zusammentreffen selbst erschrocken. Sein einziger Gedanke: Der kann mich verraten! Angst beherrscht ihn. Mit drohender Gebärde stürmt er auf den Jungen zu; eigentlich will er ihn nur einschüchtern. Doch der Kleine will flüchten, schreit aus Leibeskräften. Vašik reagiert blitzschnell, hält ihm gewaltsam den Mund zu. Er hat dabei große Mühe, den sich verzweifelt Wehrenden zu bändigen. Kurzerhand umfaßt er mit kräftigem Griff den Hals des Jungen und drückt solange zu, bis jede Bewegung erloschen ist. Er löst seine Hände und läßt den leblosen Körper zu Boden plumpsen.
Es dauert nur Sekunden, und Vašik hat die unvorhergesehene Konfrontation emotional überwunden, überzeugt sich, daß der Junge tot ist und läßt ihn vorerst liegen. Seelenruhig durchstöbert er die Räume, entnimmt aus der Schatulle im Schlafzimmer drei goldene Ringe. Den anderen Schmuck läßt er unberührt. »Dann bemerkt man nicht gleich, daß was fehlt«, sagt er dazu in der Vernehmung. Im Kleiderschrank findet er jede Menge passende Garderobe. Dann kleidet er sich um und stopft seine abgelegten, verschmutzten Sachen unter das Ehebett. Irgendwo findet er ein paar Mark, die postwendend in seinen Taschen verschwinden. In den Korridor zurückgekehrt, fällt ihm der tote Junge ein. Er trägt ihn in das Zimmer und wirft den Leichnam wie einen Sack Kartoffeln auf das heruntergeklappte Wandbett. Die Gurte wickelt er um den Hals des toten Kindes, verknotet sie fest und legt die Decke über den leblosen Körper. Bevor er verschwindet, läßt er das rote Kofferradio mitgehen, das in der Küche auf dem Kühlschrank steht. Bis zum späten Abend hält er sich auf dem Gelände des Hauptbahnhofs auf und versucht zunächst vergeblich, das Kofferradio gewinnbringend zu verhökern. Dann: Bei einem Toilettenmann hat er Glück. Die Legende mit dem Russen, der seine Uhr umsetzen will, überzeugt den Alten. Einen Teil des Geldes setzt er in einer Mitropagaststätte um, wo er Kontakt zu einigen alkoholisierten Tunichtguten aufnimmt, bei denen er für 50 Mark die Ringe losschlägt. Mit dem letzten Zug vor Mitternacht verläßt er Leipzig in Richtung Halle.
Die Tötung des kleinen Jungen hat Vašiks Seele vollends ausgekühlt. Sicher, irgendwie tut es ihm leid, daß es dazu gekommen ist, aber eigentlich ist es ihm auch egal. Warum also daran weitere Gedanken verschwenden? Letztlich ist das Leben anderer ihm ebenso gleichgültig wie das eigene. Gewiß, irgenwann einmal wird er für den Mord büßen müssen, und zwar lebenslang. Doch bis dahin will er den Augenblick genießen,
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