Blutsverwandte: Thriller (German Edition)
mittlerweile als Erwachsenen, doch nicht einmal das Gefängnis konnte Mason davon abbringen, sich als Beschützer seines kleinen Bruders zu fühlen.
»Hast du Mom gesehen?«, fragte Mason. Er fragte immer, obwohl die Antwort in den letzten drei Jahren stets gleich lautete, seit sie sich mit ihrem zweiten Mann verlobt hatte.
»Nein.«
»Sie war gestern hier. Mit Onkel Nelson.« Er hielt inne. »Sie macht den Eindruck, als hätte sie ihn langsam ein bisschen satt, wenn du mich fragst.«
»Das ging ja schnell.«
»Sie hat nach dir gefragt.«
Caleb sagte nichts.
»Macht es dir Spaß, ihr wehzutun?«
»Nein. Sie hat ihre Entscheidung getroffen.«
»Das ist wohl eine Art verfehlte Loyalität mir gegenüber, was? Oder gegenüber Dad?«
»Ich halte Loyalität gegenüber dir oder ihm nicht für einen Fehler«, antwortete Caleb leise, betrachtete seine auf dem Tisch liegenden Hände und zwang sich, sie nicht zu Fäusten zu ballen.
»An wen soll sie sich denn wenden, wenn sie Hilfe braucht? An mich?«
Caleb sah auf. »Steckt sie in Schwierigkeiten?«
Mason zog eine Schulter hoch. »Schwer zu sagen. Aber ich glaube, sie bereut so manches.«
Caleb brütete einen Augenblick darüber, ehe er zu dem Schluss kam, dass er nicht weiter darauf eingehen wollte. »Gibt’s was Neues von dem Anwalt?«
Mason lächelte verhalten. »Gott segne Großmutter Delacroix«, sagte er und wandte den Blick gen Himmel.
Caleb war ganz seiner Meinung. Ehe sie im Vorjahr gestorben war, hatte Großmutter Delacroix nämlich unter anderem einen neuen Anwalt für Mason engagiert, der ein Berufungsverfahren in die Wege zu leiten versuchte. Caleb verwaltete nun den Treuhandfonds, aus dem die Anwaltshonorare bezahlt wurden, und kümmerte sich darum, dass Mason von seinem Häftlingskonto Kleinigkeiten in der Gefängniskantine sowie Kunstmaterialien und -werkzeuge erstehen konnte. Ihre Großmutter hatte außerdem dafür Sorge getragen, dass Mason genug Geld für ein neues Leben in Freiheit hatte, falls sie seine Freilassung durchsetzen konnten. Wenn, nicht falls, sagte sich Caleb.
»Der Anwalt ist vorsichtig optimistisch«, erklärte Mason. »Nächste Woche kommt er vorbei. Ich berichte dir dann, was er gesagt hat.« Er nickte zu den Fotos hin. »Was hast du da?«
»Du wolltest doch die neue Wohnung sehen.«
In den nächsten Stunden erzählte Caleb von seinem Umzug, beschrieb ihm die neue Wohnung und schilderte seine Erlebnisse im Aufbaustudium. Mason sprach von einem Bild, an dem er gerade arbeitete, und von ein paar Mithäftlingen – Leuten, die Caleb bereits aus Masons Erzählungen kannte. Dann spielten sie eine Partie Gin Rommé. Mason gewann.
»Bist du auch vorsichtig?«, fragte Mason, doch dies bezog sich nicht aufs Spielen. Er stellte diese Frage bei jedem Besuch irgendwann, vor allem wenn Caleb eine Spur verfolgte, anhand deren sie vielleicht herausfinden könnten, wer Mason hereingelegt hatte. Keine dieser Spuren führte je zum Ziel.
»Ja, aber ich bin nicht in Gefahr. Was ich allerdings auch nicht verstehe.«
»Was meinst du damit?«
»Sie haben Dad umgebracht. Sie haben Jenny verschleppt. Und sie haben dafür gesorgt, dass du im Gefängnis sitzt. Warum bin ich von Strafe oder Leid verschont geblieben?«
Mason zog eine Braue hoch. »Ich glaube nicht, dass du verschont geblieben bist.«
Caleb schwieg. »Nein, wohl nicht, aber trotzdem …«
»Du bist nicht verschont geblieben. Ich weiß, du denkst, du würdest mich und Jenny im Stich lassen. Aber das tust du nicht, du kämpfst für uns. Und in letzter Zeit kommst du dir wahrscheinlich wie ein Einzelkämpfer vor. Aber ich kann es beim besten Willen nicht ändern, so gern ich es auch möchte.«
»Wenn wir miteinander reden – wenn ich dich sehe -, das hilft schon.«
Mason blickte erstaunt drein.
»Ehrlich«, versicherte ihm Caleb.
»Also – das freut mich.« Mason verteilte die Karten für die nächste Runde Gin Rommé. Diesmal gewann Caleb.
Um Viertel nach zwei war es Zeit für den Aufbruch, um die Abmeldeformalitäten zu erledigen. Alle Besucher wurden zum Gehen aufgefordert. Die Brüder erhoben sich und schlossen einander erneut kurz in die Arme. Die schnelle Umarmung zur Begrüßung und zum Abschied war alles, was ihnen an Körperkontakt erlaubt war.
»Danke, dass du den ganzen Weg hier raufgekommen bist«, sagte Mason.
»Bis nächste Woche.«
»Du brauchst nicht …«
»Ich weiß. Aber wir sehen uns nächste Woche.«
Dieser Wortwechsel blieb immer gleich, Woche
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