Blutvertrag
ihn an.
60
Da er wahrscheinlich aus einem Spiegel in diese Welt getreten war, überlegte Krait, ob er eines Tages wohl auf dieselbe Weise in sein heimatliches Reich zurückkehren würde.
Er stand im Schlafzimmer vor einem hohen Spiegel, der innen an der offen stehenden Tür des Kleiderschranks befestigt war. Als er die rechte Hand ans Glas legte, hätte es ihn nicht gewundert, wenn die silberne Fläche gezittert und dann nachgegeben hätte, ohne mehr Widerstand zu bieten als die Oberflächenspannung eines Teiches.
Das Glas war kühl, aber fest unter seiner Haut.
Er hob auch noch die linke Hand und presste sie gegen die gehobene Hand des anderen Krait, der zu ihm herausblickte.
Vielleicht lief die Zeit in der umgekehrten Spiegelwelt rückwärts. Dann wurde er womöglich statt zu altern jünger, bis er wieder achtzehn war. In diesem Alter setzten seine Erinnerungen ein, und wenn er tatsächlich weiter in seine Jugend vordringen konnte, dann erfuhr er vielleicht, woher er gekommen und von wem er geboren worden war.
Aug in Auge mit seinem anderen Ich blickte er in dessen Düsternis hinab, und was er sah, gefiel ihm.
Er glaubte, nur leichten Druck auszuüben, doch plötzlich knackte es im Glas. Ein Riss zog sich von oben nach unten, ohne dass der Spiegel aus dem Rahmen fiel.
Nun waren die Hälften von Kraits Spiegelbild leicht verschoben. Ein Auge war ein winziges Stück höher als das andere,
die Nase war entstellt. Auch eine Seite des Mundes sah so schief aus, als hätte er einen Schlaganfall erlitten.
Dieser andere, verschobene Krait verstörte ihn. Dieser gebrochene, unvollkommene Krait. Dieser ungewohnte Krait, dessen Lächeln kein Lächeln mehr war.
Er nahm die Hände vom Spiegel und schloss den anderen Krait rasch im Kleiderschrank ein.
Entnervt und ohne recht zu wissen, warum, beruhigte er sich, indem er die Schubladen des niedrigen Schranks daneben aufzog, um deren Inhalt zu erforschen. Wie üblich wollte er so viel wie möglich über das Leben seiner Gastgeber erfahren und Geheimnisse entdecken, die ihn freuten.
61
Die Tür zwischen Küche und Flur stand offen. Pete hatte seine Waffe darauf gerichtet.
Tim legte einen Finger an die Lippen, um seine Mutter zum Schweigen zu ermahnen, während er sich neben sie kniete. »Wo ist er?«, flüsterte er.
Sie schüttelte den Kopf. Offenbar wusste sie es nicht.
Als sie ihm mit der rechten Hand die Wange streichelte, drückte er einen Kuss darauf.
Ein Bein des Stuhls, auf dem sie saß, war an ein Tischbein gekettet. Am Stuhl hinderte eine Querstrebe Tim daran, die Handschelle einfach abzuziehen. Der Tisch wiederum hatte einen Kugelfuß in Form einer Raubtierpranke, der dicker war als die andere Schelle.
Marys linker Arm war an die Armlehne des Stuhls gefesselt.
Die Handschellen hatten ein einfaches Doppelschloss. Vielleicht war es möglich, eine Büroklammer oder etwas Ähnliches so zu verbiegen, dass man das Ding damit knacken konnte, aber dazu brauchte man Zeit.
Zwischen der Armlehne und der Sitzfläche des Stuhls befanden sich mehrere Streben. Die am Ende der Lehne war dicker als die anderen, aber abgesehen davon das Einzige, was die Handschelle am Heruntergleiten hinderte.
Obwohl es ihm lieber gewesen wäre, den Flur nicht unbewacht zu lassen, gab Tim ein Zischen von sich, um Pete auf sich aufmerksam zu machen. Dann winkte er ihn zu sich.
Beide mussten ihre Waffen weglegen.
Tim wollte unbedingt vermeiden, dass der Stuhl sich über den Boden bewegte, sonst hätten die übers Parkett scharrenden Beine ein lautes Geräusch verursacht.
Pete stützte eine Hand auf die rechte Armlehne und die andere auf die gebogene Rücklehne. Dann drückte er mit seinem ganzen Gewicht nach unten.
Die eine Hand an der linken Armlehne, packte Tim mit der anderen die vordere Strebe. Er drückte auf die Lehne und zog an der Strebe, mit aller Kraft, die er aufbringen konnte.
Die Strebe war ein Rundholz, das in Vertiefungen in Sitz und Lehne geleimt war. Theoretisch stellten die Enden Schwachstellen dar, die sich bei entsprechendem Zug aus ihren Löchern lösen konnten.
Tims rechter Arm schien vor Anstrengung anzuschwellen. Er spürte, wie sich seine Halsmuskeln verkrampften und wie das Blut in seinen Schläfen pochte.
Seine Eltern hatten den Tisch und die Stühle vor mindestens dreißig Jahren gekauft, als Möbel noch von Hand gefertigt worden waren und ein Leben lang halten sollten.
Der unbeobachtete Flur in Tims Rücken forderte Aufmerksamkeit, doch das musste er
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