Blutvertrag
aus seinem neuen Schulterhalfter. Während er den Flur entlangging, ließ er den Arm damit locker herabhängen.
Rechts von ihm befanden sich Türen mit den ungeraden Zimmernummern, links die mit den geraden. An der fünften Tür stand die 308.
Laut der Information des Hotelbuchungssystems hatten Carrier und sein Schützling sich vor dreieinhalb Stunden an der Rezeption angemeldet. Im Gegensatz zu Krait hatten sie nicht in Erwartung dessen, was die Nacht bringen würde, bis um vier Uhr nachmittags geschlafen. Erschöpft, wie sie waren, hatten sie sich bestimmt eingeredet, vorläufig in Sicherheit zu sein.
Krait profitierte ungeheuer von der Tatsache, dass die Menschheit nicht viel Realität ertragen konnte. Sobald seine Zielperson sich dem Wunschdenken überlassen hatte, pirschte er sich heran, nahezu unsichtbar, weil er die Realität darstellte, die zu sehen man sich weigerte.
Auf dem Weg herauf hatte er einen kurzen Abstecher in den ersten Stock gemacht, um festzustellen, welche Sorte
Türschlösser es war. Das Hotel hatte die ursprüngliche Ausstattung durch elektronische Schlüsselkarten ersetzt.
Unter solchen Umständen war die nette, kleine Sperrpistole nutzlos. Deshalb hatte Krait sich entsprechend vorbereitet.
Ins Treppenhaus zurückgekehrt, war er stehen geblieben, um etwas aus seiner Brieftasche zu ziehen, das aussah wie die Kreditkarte eines Kaufhauses. In Wirklichkeit handelte es sich um einen analytischen Scanner, der den Code jedes elektronischen Schlosses lesen und wiedergeben konnte.
Anders als die Sperrpistole wurde dieses Gerät nicht einmal an Polizeibehörden verkauft. Genauer gesagt, konnte es niemand kaufen. Man bekam es geschenkt, als Gunst sozusagen.
An der Tür von Zimmer 308 angelangt, führte Krait die Karte sofort in den Schlitz ein. Als das Lämpchen von rot auf grün umsprang, zog er sie nicht wieder heraus; solange sie sich an Ort und Stelle befand, blieb das Schloss unweigerlich offen.
Die Schlüsselpistole machte kaum Geräusche, wenn man sie benutzte. Der analytische Scanner machte gar keine.
Durch einen Schalter am Schlitten der Pistole ließ sich einstellen, ob sie als halb- oder vollautomatische Waffe fungieren sollte. Obwohl Krait normalerweise eine simple Taktik und elementare Waffen vorzog, stellte er die Glock auf vollautomatisches Feuer.
Bestimmt war die Sicherheitskette vorgelegt. Die Pistole in beiden Händen, wich Krait ein Stück zurück und trat dann mit aller Kraft gegen die Tür. Dabei zielte er mit dem Schuh so hoch wie möglich.
Die Arretierungsplatte riss aus dem Rahmen, die Tür flog auf, und Krait rückte rasch ins Zimmer vor, halb geduckt, die Arme ausgestreckt, bereits ein wenig Druck auf dem Abzug. Er schwenkte die Mündung erst nach links und
dann nach rechts, bevor er der Tür auswich, die gegen den an die Wand geschraubten Stopper krachte und zurückprallte.
Zwei Betten. Das eine leicht zerwühlt. Auf dem anderen war nur die Tagesdecke zurückgeschlagen. Ein Nachttisch mit einer Lampe.
Keine Spur von Mr. und Mrs. Vielleicht waren sie wach gewesen und hatten das Quietschen der Tür zum Treppenhaus gehört.
Nur zwei Fluchtmöglichkeiten. Der Balkon. Das Bad.
Die Badezimmertür stand halb offen. Dunkel da drin.
Krait beugte sich vor, um das Gewicht des Schalldämpfers auszugleichen, und feuerte eine kurze Salve durch den dunklen Spalt. Ein Spiegel zerbarst, wahrscheinlich auch ein paar Fliesen. Splitter prasselten durchs Badezimmer; ein Schuss streifte die Tür.
Ein schwacher Rückstoß, als ob der Schalldämpfer wie ein Rückstoßkompensator gewirkt hätte. Nicht genug Lärm, um einen Schläfer im Zimmer aufzuwecken, wäre einer da gewesen. Keinerlei Mündungsfeuer.
Keine Schreie aus dem Badezimmer. Das Feuer wurde nicht erwidert. Da drin war niemand. Abgehakt.
Die Balkontür war von Vorhängen verhüllt. Carrier hatte eine Waffe. Deshalb musste Krait auf Nummer sicher gehen, bevor er den Vorhang zur Seite riss.
So sehr er es auch bedauerte, ein derartiges Durcheinander zu hinterlassen, feuerte Krait eine weitere kurze Salve ab. Der Vorhang zuckte, die Glastür zerbarst, und irgendetwas machte klack! und zing! . Krait zog den Vorhang beiseite und trat hinaus. Unter seinen Sohlen knirschten Glassplitter.
In einem Wind, der so frisch vom Meer kam, dass er leicht nach Salz roch, stand Krait allein auf dem Balkon. Er trat ans Geländer und blickte hinab. Direkt unterhalb waren einige Felsen zu sehen, dann kamen der Strand und
die Brandung.
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