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Blutwind

Blutwind

Titel: Blutwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Melander
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kühl und abweisend hatte sie sich verhalten. So wurden sie alle. Er weiß jetzt, dass er den anderen Weg zu gehen hat. Er muss durch den gleichen wilden Garten, den er schon vor sechs Jahren beim Mittsommernachtsfest besucht hat. Dort, hinter dem Holundergebüsch und dem morschen Zaun, gibt es jemanden, der ihm ähnlich ist. Er ist auf dem Weg nach Hause.
    Er rutscht vom Sitz. Steckt die Schlüssel in die Tasche und schließt die Fahrertür mit einem kleinen Klicken. Lehnt sich an die Heckklappe und zündet sich eine Benson & Hedges an, während er die Einfahrt betrachtet. Er zieht an der Zigarette, lässt das Nikotin sich verteilen, durch seinen Körper schweben. Genießt den leichten Schwindel und die laue Abendluft, während er den Rauch durch die Nase ausstößt. Die meisten Häuser sind leer, die Bewohner sind bei den Mittsommernachtsfeuern am See. Er kennt das Ritual.
    Christian tritt die Zigarette mit der Schuhspitze aus und verschwindet in den Schatten.
    Der Mond geht über dem See auf, als er in das Holundergebüsch an dem verfaulten Baumstumpf kriecht. Er kann zwischen dem dichten und verästelten Holunder hindurchsehen, es ist so gut wie nichts mehr von der roten Farbe an den alten Brettern des Holzzauns geblieben. Dort, hinter den Zweigen, ist die kleine Anhöhe, wo er die Nachbarskatze begraben hat.
    Der verzauberte Garten mit dem Haus auf dem kleinen Hügel liegt vor ihm, gebadet im bleichen Silberlicht des Mondes. Weit entfernt, in einer anderen Welt, ist das Knistern von Feuern zu hören. Strophen aus der Mittsommernachtsweise treiben über den See.
    Sein Blick sucht das Haus, die leere Fassade mit den dunklen Augen, die schwarzen, leblosen Rechtecke und Quadrate der Fenster. Er atmet tief durch, verlässt die Schatten unter dem Gebüsch. Läuft vornübergebeugt über die Grasfläche, bleibt dann aber verwirrt vor dem Haus stehen.
    Die Haustür steht einen Spalt offen.
    Vorsichtig tritt er näher, schleicht die drei Stufen bis zur Tür hinauf. Sieht sich um. Der Garten ist leer und bebt im Mondlicht vor Erwartung. Er füllt die Lunge, wagt einen letzten Schritt und drückt einen Finger auf die Klinke.
    Die Tür schwingt ohne Widerstand auf.
    Dunkelheit, undurchdringliches Schwarz. Die Luft ist trockener hier drinnen, reiner. Er schließt die Tür hinter sich, steht ganz still und horcht. Nichts rührt sich. Nichts verrät, ob er gehört worden ist. Nur die üblichen Geräusche eines alten Hauses. Äste an den Fenstern, knarrende Dachsparren und Treppen. Ein Wasserhahn tropft. Irgendwo im Haus beginnt eine Uhr zu schlagen. Eins, zwei, drei – er zählt elf Schläge, als er sich in Bewegung setzt. Nach rechts. Die Dielen ächzen unter seinen Füßen. Vorbei an dem offenen Treppenhaus mit der alten Treppe ins Obergeschoss. Ein unbestimmbarer, lockender Duft steigt aus einer Öffnung zur Linken, gleichzeitig chemisch und organisch. Verwesung und Lösungsmittel? Er zwingt sich weiterzugehen und zieht eine kleine Taschenlampe aus der Jackentasche. Wagt ein wenig Licht zu machen. Alte Stofftapeten mit Paisleymuster an den Wänden. Eine Tür zu einer kleinen, altmodischen Küche. In der Ecke ein alter schmiedeeiserner Herd. Holzscheite liegen in einem Korb gestapelt.
    Gegenüber der Küchentür führt eine Tür in eine leere Stube. Das Mondlicht scheint durch die staubigen Fenster, Lichtflächen auf dem abgetretenen Holzfußboden. Der Umriss eines Schaukelstuhls in all dem Silberweiß.
    Vor ihm, zwischen Küche und Stube, versperrt eine geschlossene Tür den Weg. Er zögert, löscht das Licht. Lauscht.
    Das ganze Haus hält den Atem an, wartet. Weit entfernt der Lärm des Lyngbyvej. Stimmen, die den Ton nicht richtig treffen, klingen über den Gentofte Sø.
    Er muss durch diese Tür, um weiterzukommen. Es geht nicht anders. Er tritt einen Schritt vor, greift nach der Klinke, öffnet die Tür. Er steht in der Dunkelheit auf der Schwelle und wartet. Nichts geschieht. Ein schwerer Schreibtisch vor dem Fenster, eine Lampe. Etwas Großes, Massives zieht sich an beiden Seiten über die Wände. Er wartet mit angehaltenem Atem. Dreißig Sekunden, eine Minute. Nichts passiert.
    Zwei Schritte. Christian schaltet die Taschenlampe an und hält einen Schrei zurück. Sie glotzen ihn an, durchleuchten ihn. Gefangen in dem bleichen Lichtkreis, in Kolben aus Glas, sorgfältig auf Gestelle aus lackiertem Holz gestapelt; überall, wohin er auch sieht, starren ihn Augen an. Fünfzehn bis zwanzig Gläser auf jedem Regalbrett,

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