Blutwind
die blassweißen Kugeln schweben träge in einer klaren, gelblichen Flüssigkeit. Ihre runde Form zerfasert, zieht schlierige Spuren nach sich. Und in den Gestellen Stapel um Stapel graublaue und grüne, harte, feste. Glasaugen? Er blinzelt.
Er muss sich am Schreibtisch festhalten. Das Licht der Taschenlampe streift eines dieser unseligen Gläser. Zwei Augen mit einem Schwanz aus ausgefaserten Schlieren, Resten des Muskelgewebes, weißlich vor Alter, schaukeln leise in der Flüssigkeit – durch seinen Stoß an den Schreibtisch in Bewegung gesetzt.
Ein Rascheln, das Geräusch von Stoff an Stoff.
»Willkommen.« Die Stimme flach und tonlos, hart und kalt. Wie aus der Tiefe eines riesigen Steins. Bevor Christian sich umdrehen oder reagieren kann, fährt die steinerne Stimme fort: »Ich habe dich erwartet.«
Christian muss sich an die Schreibtischkante lehnen, das Herz hämmert in seiner Brust. Die Wände, die vielen Augen, alles dreht sich. Er schluckt und richtet die Taschenlampe auf die Stimme.
Ein Sessel in der Ecke, eine kräftige Gestalt. Der obere Teil des Gesichts im Schatten, nur die untere Hälfte ist beleuchtet. Die weichen Lippen bewegen sich. Eine rosa Zunge befeuchtet gelbe Zähne. Irgendetwas ist mit dieser Stimme. Entsetzen und Erregung wogen in ihm. Die Erinnerung an seinen letzten Aufenthalt im Garten wird im Mondlicht gebadet.
Die Gestalt steht auf und erhebt sich über ihn.
Christian versucht, den Lichtkegel auf das Gesicht zu richten, doch ein schwerer Arm schlägt zu. Die Taschenlampe fliegt ihm aus der Hand, blinkt einen Moment und erlischt dann. Christian zieht sich einen Schritt zurück, in die Ecke zwischen Regal und Schreibtisch.
»Die Polizei ist schon unterwegs«, beginnt er, aber der Mann lässt ihn nicht ausreden.
»Es gibt einen besseren Weg. Ich kann ihn dir zeigen.«
Christian wagt nicht, die Augen von ihm abzuwenden. Sein Gehirn arbeitet mit Hochdruck.
»Meine Eltern … sie …« Es ist schwachsinnig, das weiß er. Aber er hat keinen besseren Einfall.
Der Mann im Schatten lacht. Dann legt er den Kopf schräg.
»Würdest du gern meine Familie kennenlernen?«
Der Junge spannt die Muskeln an, geht in die Knie, springt auf den Schreibtisch. Doch aus der Dunkelheit kehrt der schwere Arm zurück und fegt die Beine unter ihm weg. Die steinerne Stimme brüllt. Er fällt. Schlägt mit dem Rücken auf die Lampe, rollt über die Schreibtischkante, reißt im Fallen das Glas mit den beiden Augen mit. Es zersplittert, die Glasscherben zerschneiden ihm den Unterarm. Die Arme geben nach, er knallt gegen das Regal, kann sich nicht abstützen. Der Boden kommt ihm entgegen. Das Letzte, was er sieht, bevor er ohnmächtig wird, sind Hunderte von Augen, die auf ihn einstürzen.
Dunkelheit. Ein Nichts, dunkler als alles, was er bisher kannte. Düstere Musik, dunkle Streicher, die eine wiegende, monotone Basis für ein eintöniges Horn bilden. Eine Frauenstimme singt, schöner, als er es je für möglich gehalten hätte.
Das Unglück geschah nur mir allein.
Die Sonne, sie scheinet allgemein.
Schmerzen, stärker, schneidender. Unerträglich. Als wäre sein Kopf in der Mitte aufgerissen. Und dieses Unbekannte, etwas, was sich für immer verändert hat.
Hinter sich hört er ein Murmeln. Er liegt auf dem Bauch, nackt. Er will sich umdrehen, aber er ist festgeschnallt. Er kann sich nicht rühren, nur den Kopf bewegen, er versucht, mit den Augen zu blinzeln. Aber es gibt nichts zu blinzeln, die Augenlider fallen über ein leeres Nichts. Dieses stille, sickernde Tropfen in seinem Schädel.
Er weint Blut.
Er stößt einen Schrei aus, als kräftige Finger seine Hinterbacken spreizen und eine Feuersäule sich durch seinen Schließmuskel zwingt und mit explosiver Kraft einen Weg bahnt. Für einen kurzen Moment verliert er durch den Schmerz das Bewusstsein, dann reißt ihn derselbe Schmerz zurück.
Über ihm wird das monotone Murmeln lauter, es wird zu verständlichen Wörtern, die mit jedem Stoß akzentuiert werden.
»Willkommen … mein … Sohn.« Wieder und wieder, während die Feuersäule sein Inneres blutig reißt, seine langgezogenen, jammernden Schreie die Kehle aufschlitzen und ihm das Blut über die Wangen fließt.
Und über ihnen ein scharrendes Geräusch. Irgendjemand geht oben im Haus umher.
51
Die Kolonne fuhr nach Norden in Richtung Kopenhagen. Im Wageninneren herrschte drückende Stille. Allan fuhr. Ulrik saß auf dem Rücksitz. Sanne starrte in die Dunkelheit. Die
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