Blutzeichen
nicht. Und obwohl er Amerikaner war, fehlte ihm das patriotische Gehabe, das die meisten Auswanderer so gerne zur Schau stellen, indem sie beispielsweise am vierten Juli Fahnen schwenken und Feuerwerkskörper in die Luft jagen. Ein einziges Mal hatte er in meiner Gegenwart sein Geburtsland erwähnt, und auch das lag schon einen Winter zurück. In Washington hatte sich etwas Skandalöses zugetragen, das selbst die Leute hier oben erregte. Der Champagnermann, dem der ATV- und Schneemobilverkauf an der Straße etwas weiter unten gehörte, hatte Bill gefragt, was er vom derzeitigen Zustand seines Landes hielt.
Bill, der gerade dabei gewesen war, die Theke abzuwischen, hatte innegehalten und den Mann auf dem Barhocker vor ihm angestarrt. Sein buschiger weißer Bart und sein narbiges Gesicht verliehen Bill das Aussehen eines ausrangierten Weihnachtsmanns.
»Ich bin nicht in den Himmel gezogen, um mich weiter um die Hölle zu kümmern.« Dann hatte Bill mit der Faust auf die Theke gehauen und damit jedermanns Aufmerksamkeit gewonnen. Ich hatte allein in einer Ecke über einer Suppenschale Schwarzbierchili gesessen. »Hört zu!«, hatte Bill gebrüllt. »Wenn ihr über aktuelle Ereignisse in den Vereinigten Staaten reden wollt, dann tut das woanders! Ich will verflucht sein, wenn ich mir so ‘n Zeug in meinem Diner anhören muss!«
Doch an diesem ruhigen Morgen war Bill freundlich und gelassen. Aus den Lautsprechern des Diners erklang Bach, und ich bemerkte, dass Bill in ein Tagebuch geschrieben hatte.
Er gab mir mein Wechselgeld zurück und fragte, ob ich mit Schnee rechnete. Als ich erwiderte, dass ich darauf hoffe, stimmte er mir lächelnd zu.
Manchmal fragte ich mich, ob Bill mich verdächtigte. Immer wenn sich unsere Blicke kreuzten, war da diese Energie. Trotzdem machte ich mir wegen Bill keine Sorgen. Verschiedene Umstände mochten uns nach Haines Junction geführt haben, doch wir wollten beide das Gleiche. Und wir bekamen es. Ich schätze, wir spürten ein gegenseitiges Vertrauen.
Ich nahm meinen Kaffeebecher und mein Teilchen, verließ das Bills und ging in Richtung des letzten Hauses auf dieser Straßenseite, ein zweigeschossiges Gebäude, das eher wie ein Skihotel als wie eine öffentliche Bücherei aussah. Doch die Architektur passte zu dieser ländlich romantischen Gemeinde.
Während ich dorthin ging, zogen immer mehr Wolken auf.
Es wurde kalt und still.
Ich wollte wieder zu Hause sein, bevor es anfing zu schneien.
Das Erdgeschoss der Bücherei beherbergte eine so winzige Büchersammlung, dass es beinah schon rührend war. Doch ich war nicht gekommen, um mir Bücher auszuleihen.
Ich ging an der Empfangstheke vorbei und stieg die Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock, der aus einem Arbeitsraum, einem Zeitschriftenarchiv und einem Computerraum bestand, in dem es den einzigen Internetzugang von Haines Junction gab.
Ich ging in den Computerraum und setzte mich an einen der drei freien Arbeitsplätze.
Die Verbindung war langsam.
Ich packte meine warme Bärentatze aus, hob den Plastikdeckel meines Kaffeebechers ab und betete, dass der unfreundliche Bibliothekar mich nicht damit erwischte.
Als Erstes sah ich meine E-Mails durch. Ich hatte mehrere Nachrichten von meinen Onlinetagebuchfreunden, daher verbrachte ich die nächste Stunde damit, die Mails zu lesen und zu beantworten.
Vor Jahren hätte ich mich dafür in den Hintern getreten, auch nur über Onlinefreundschaften nachzudenken. Ich hielt es für das erste verräterische Anzeichen einer einsamen, larmoyanten Existenz. Doch inzwischen sah ich im Chatten die einzige Möglichkeit, tiefgründigere Gespräche mit echten Menschen zu führen.
Da ich mich versteckte, musste ich einen gewissen Abstand zu meinen Nachbarn wahren. Egal wie sehr ich jemanden aus dem Dorf mochte, mit jeglicher Art von persönlicher Bindung hätte ich meine Freiheit aufs Spiel gesetzt. Daher hatte ich in den fünf Jahren, die ich nun in Haines Junction lebte, noch nie jemanden zum Essen in meine Hütte eingeladen oder gar eine Einladung von jemand anders angenommen. Gerne hätte ich Weihnachten oder Thanksgiving mit ein paar interessanten Leuten verbracht, die ich hier kennen gelernt hatte, doch es war zu riskant. Einsamkeit war der Preis, den ich für meine Freiheit zahlte.
Doch meiner Onlinetagebuchgemeinde konnte ich mein Herz ausschütten – natürlich auch nur maskiert – und sie konnten mir ihre Seelen öffnen. Ihre Bekanntschaft war mir ein ungeheurer Trost. Ich
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